DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
stimmt sind auch einige Schriften, die gewöhnlich unter die Akzidenz-Antiquaschriften
eingereiht werden. Aus vielen Gründen wird es aber besser sein, sie nicht aus der
Gesamtheit dieser gemischten Schriften herauszulösen, denn besagte Gruppe wird erst
am Ende dieses Kapitels zu behandeln sein. Eine einzige Ausnahme könnten wir in
dieser Hinsicht mit jenen Schriften machen, die in unseren Proben einerseits die ver¬
hältnismäßig einfachen französischen schraffierten plastischen Versalien etwa aus dem
Jahre 1810 repräsentieren (Abb. 166 R), und andererseits die sehr reich dekorierte
plastische Schrift aus dem Musterbuch der Prager Schriftgießerei Haase um die Mitte
des 19. Jahrhunderts (Abb. 162), die mit ihrer Methode der ornamentalen Behandlung
in der europäischen Typographie dieser Zeit sicher ein einzigartiges Beispiel darstellt.
Bemerkenswert ist aber bei beiden ornamentalen Antiquaschriften nicht nur der ge¬
ringere Kontrast zwischen den schwachen und fetten Zügen, sondern vor allem die
deutliche Verstärkung der flachen Serifen; dieses zeichnerische Merkmal ist in über¬
triebener Form typisch für die zweite Gruppe der Akzidenzschriften des 19. Jahr¬
hunderts.
Die fetten Antiqua- und Italikaschriften blieben, so vielgestaltig sie auch in ihren
zahlreichen Modifikationen waren, doch nicht die einzigen Schriften, die gleich zu
Beginn des 19. Jahrhunderts das Repertoire der Akzidenzsetzer bereicherten. Die in
der Chronologie zweite und für die gleichen Zwecke vorgesehene Schrift war eine
wirklich neue, in der Geschichte der Schrift bisher nicht vorkommende Form, die von
ihren englischen Schöpfern aus unbekannten Gründen bei ihrer Geburt den Namen
Egyptian erhielt. Updike meint, daß der Grund für diese Bezeichnung in der dunklen
Farbe liege, in der 'ägyptischen' Finsternis des Gesamtbildes dieser Schrift. Das ist
aber keine besonders überzeugende Erklärung, denn auch andere Schriften dieser
Zeit, etwa die fette Antiqua, waren übertrieben dunkel. Andere Forscher erläutern
diese Bezeichnung mit der Eckigkeit der Schriftzeichnung, die sie an die altägyptische
Architektur erinnere. Der Wahrheit am nächsten kommt meines Erachtens die Er¬
klärung A. F. Johnsons, der zu dem Schluß gelangt, daß diese Bezeichnung ähnlich
wie viele andere moderne Benennungen dem Bestreben entspringt, eine aktuelle Sen¬
sation geschäftlich zu nutzen, und dazu gehörte in der Tagespresse jener Zeit alles,
was mit dem alten Ägypten zusammenhing. Das allgemeine Interesse an Dingen der
ägyptischen Geschichte, angeregt durch Napoleons Expedition nach Ägypten, wuchs
noch durch die Veröffentlichung von Studienergebnissen der Archäologen, die Na¬
poleon bei diesem Unternehmen begleiteten. Besonders sensationell war für England
die Erbeutung des Steines von Rosette, der später die Entzifferung der altägyptischen
Schrift ermöglichte und im Jahre 1802 nach London überführt wurde. Wie dem auch
sei, die Bezeichnung Egyptian bürgerte sich nicht nur für immer in England, sondern
auch in Frankreich ein und gelangte von dort als EGYPTIENNE nach Deutschland
und ins übrige Mitteleuropa. In der modernen englischen Terminologie wird nun¬
mehr systematisch die Bezeichnung slab-serif oder square-serif eingeführt, zwar sehr
genaue, aber in andere Sprachen nicht übertragbare Bezeichnungen.
Die Egyptienne unterscheidet sich von der fetten Antiqua im Prinzip dadurch, daß
die von den Bestellern der Propagandadrucke geforderte Attraktivität des Schrift¬
bildes nicht nur erreicht wurde, indem die fetten Züge der klassizistischen Antiqua
fetter gemacht wurden, sondern auch durch eine ebensolche oder annähernd gleiche
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EGYPTIENNE
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Verstärkung der dünnen Züge und flachen Serifen. Besonders die hohen Rechtecke
der so betonten eckigen, tafelförmigen Serifen sind für jede Egyptienne charakteri¬
stisch. Wenn die Verwandtschaft der Egyptienne mit der Antiqua des klassizistischen
Typus aus dem Gesamtbild der dunklen, beinahe gleich breiten Flächen aller Züge
und Serifen auch nicht wahrscheinlich scheint, wird sie nichtsdestoweniger durch
einige gemeinsame Merkmale, wie die uniforme Breite des Schriftbildes der Versalien,
das nicht unter die Grundlinie gezogene J, den gebogenen Schrägfuß des R, die
große Schlinge des e, den hochgezogenen Schaft des t usw. bestätigt. Im kleinen Alpha¬
bet der Egyptienne, das durch sein großes Bild auffällt, ist es aber noch schwieriger als
bei den Versalien, das Prinzip annähernd gleich starker Züge konsequent beizube¬
halten. Es blieb also nur übrig, sich weiterhin an die traditionelle Verteilung der
Schattenfarbe zu halten, aber auch das geschah nach der vertikalen Achse der klas¬
sizistischen Antiquaschriften.
Daß Robert Thorne der Autor des Schnittes der ersten Egyptienne war, wird zwar
von keinem der zeitgenössischen Autoren bestätigt, wie dies bei der fetten Antiqua
der Fall ist, aber A. F. Johnson (Type Designs, 1937) hält es für sehr wahrscheinlich,
denn in Verbindung mit Thornes Namen erscheint erstmalig die Bezeichnung Egyp¬
tienne für eine Schrift dieser Art. Im Versteigerungskatalog der Thorneschen Schrift¬
gießerei von 1820 werden unter dieser Bezeichnung sechs Schriftgrade der Egyptienne
angeführt, und sie erscheinen auch in dem bereits erwähnten Probenbuch, das im
gleichen Jahre von William Thorowgood herausgegeben wurde. Thornes Priorität
wird jedoch zweifelhaft durch das Musterbuch Vincent Figgins aus dem Jahre 1815,
in dem Schriften dieses Schnittes nur in Versalien und unter dem Namen Antique an¬
geführt sind, was für eine Schrift dieses Schnittes sicher nicht weniger kurios ist. Einige
Umstände zeugen aber nach dem Urteil A. F. Johnsons davon, daß die Bezeichnung
Antique jünger ist und wohl nur gewählt wurde, um den Eindruck zu erwecken, daß
es sich um eine neue Schrift handelt und nicht - wie in Wirklichkeit - um eine bloße
Kopie der ursprünglichen Egyptienne, wahrscheinlich nach dem Schnitt Thornes. Und
angeblich kann man eben die Schrift Thornes und nicht diejenige Figgins' durch die
ältesten bisher bekannten Egyptienne-Drucke belegen, die wiederum Plakate der staat¬
lichen Lotterie sind, diesmal zur Auslosung im Januar 1817. Es ist also klar, daß diese
Egyptienne bereits im Jahre 1816 geläufig war und demnach sicher noch früher her¬
gestellt wurde. Jedenfalls haben wir ein Zeugnis für das höhere Alter wenigstens der
Thorneschen Bezeichnung in dem von Updike angeführten Zitat einer Quelle aus dem
Jahre 1806, das eine Erwähnung des Schriftmalerhandwerks 'modischer Egyptienne-
Schilde' enthält. Insofern scheint es nicht wahrscheinlich, daß dieses Schriftschaffen
die Typographie beeinflußte, vielmehr kann man im Gegenteil annehmen, daß es zur
Entstehung der Egyptienne vor 1806 kam, und zwar offenbar in der Schriftgießerei
von Robert Thorne, dem eigentlichen Initiator dieser Entwicklungsrichtung in der
Akzidenz-Typographie. Demgegenüber verteidigt Nicolette Gray die Priorität Vin¬
cent Figgins, wobei sie sich ausschließlich auf die Autorität datierter Quellen stützt.
Diesen Streit vermochte auch der Umstand nicht zu schlichten, daß nach 1820 auch
andere englische Schriftgießereien weitere Versionen der Egyptienne herausbrachten,
aber insgesamt unter der Bezeichnung Antique, was den Eindruck der Existenz eines
Schutzes oder doch wenigstens der Scheu vor dem Mißbrauch der ursprünglichen
Bezeichnung erweckt oder für das Primat Vincent Figgins' spricht. Erst im Jahre 1825
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