FRÜHE INSCHRIFTENMAJUSKEL DER RENAISSANCE
Form ohne Strichstärkewechsel mit Serifen, in der alle Züge aller Buchstaben in gleicher
Breite ausgemeißelt sind und von Serifen abgeschlossen werden, ist in der frühen Re¬
naissance verhältnismäßig selten. Aus dieser Kategorie kann man aber jene Schriften
nicht ausnehmen, die zwar hinsichtlich der Uniformität der Striche weniger kon¬
sequent sind, aber ebenso diskret angedeutete Serifen tragen. Als Beispiel einer solchen
Majuskel kann uns die Schrift der Inschrift des Schloßportals von Tovacov aus dem
Jahre 1492 dienen (Taf. Hlb), zweifellos das älteste Dokument der monumentalen
Renaissance-Schriftkunst in den böhmischen Ländern. Es ist dies eine in ihrem Alpha¬
bet (Abb. 3) graphisch sehr interessant komponierte Schrift, interessant hauptsächlich
durch das Auftreten einiger Buchstaben, durch die sich in ihr die zeitgenössische re¬
tardierende Tendenz der böhmischen Spätgotik der Zeit Wladislaws verrät. Am deut¬
lichsten ist in dieser Beziehung die Form des Buchstabens D, eine sehr enge Modifika¬
tion der gotischen Unziale in Gestalt eines umgekehrten Q. Kurios auch die Form
des К mit den gewellten und scharf beendeten Armen, die ihre Analogie in dem
ebenfalls gewellten und kurzen Füßchen des R finden. Und dennoch hat diese Schrift
in der Gesamtheit der Inschrift ausgesprochenen Renaissancecharakter, besonders
durch den Rhythmus ihrer Proportionen, die mit Ausnahme des sehr schmalen В eher
sehr breit wirken, besonders bei dem breit gespreizten M. Der Kontrast zwischen den
starken und schwachen Zügen ist größtenteils sehr undeutlich und fehlt manchmal
völlig, wie etwa beim V. Es überwiegen die starken Züge, und nur die Horizontalen
sind etwas schmäler. Graphisch am interessantesten ist aber die charakteristische
Form der kleinen Serifen mit den ziemlich steilen Kehlungen.
Das Problem der Existenz der Serifen in der Renaissance-Majuskel wurde zwar
schon vor dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts zu ihren Gunsten gelöst, es dauerte
aber noch ziemlich lange, bis sich ihre Form stabilisierte. Die sehr kleinen Serifen der
eben angeführten Schriften waren eine der möghchen Lösungen und meiner Meinung
nach eine sehr glückliche Lösung. Als eine solche kann man aber kaum das andere
Extrem bezeichnen, wo entgegen der verhältnismäßig mageren Zeichnung sehr schwere
dreieckige Serifen eingefügt wurden. Eine solche Majuskelform mit dreieckigen Serifen
entzieht sich zwar zum großen Teil schon etwas der Kategorie der Inschriften-Ma¬
juskel der Frührenaissance, ist aber nichtsdestoweniger immer noch eine Übergangs¬
form in der Entwicklung zu den Hochformen, und deshalb wird es vielleicht besser
sein, sich schon bei dieser Gelegenheit mit ihr auseinanderzusetzen. Ein gutes Beispiel
für eine solche Schrift ist die Inschrift auf dem Grabmal des Kaisers Heinrich VII.
in der Kathedrale zu Pisa, entstanden im Jahre 1494. Auf den ersten Blick handelt es
sich um eine sehr enge Kopie antiker Schriftkunst aus dem 2. Jahrhundert; die Schrift
hat insgesamt klassische Proportionen, ist aber bei näherem Hinsehen bei weitem nicht
so vollendet. In ihrem Alphabet (Abb. 4) ziehen die schweren, wenn auch scharf
auslaufenden dreieckigen Serifen das Hauptaugenmerk auf sich. Die Zeichnung des
eigentlichen Schriftbildes ist ziemlich zart und ohne besondere Betonung des Kon¬
trastes zwischen den schwachen und starken Zügen. Manche Schäfte, wie zum Beispiel
bei den Buchstaben B, E und F, sind nur sehr wenig verstärkt, so daß das Übergewicht
der graphischen Wirkung der Serifen in solchen Fällen besonders markant ist. Es ist
interessant, daß gerade die Renaissanceschriften dieses Typus in der Welle der Neo-
renaissancebewegung am Ende des 19. Jahrhunderts die größte Aufmerksamkeit der
Schriftgießer erregten und daß diese ihre mageren Varianten der Egyptienne mit den
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