г 66. Ornamentale fette plastische Antiqua des ig. Jahrhunderts.
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FETTE ANTIQUA
Gerät einkomponiert sind (Abb. 166 D). Als Beispiel einer plastischen Imitations-
Antiqua kann uns dann die 'Perl-Antiqua' William Thorowgoods von 1834 oder die
feinere französische Variante aus den Jahren 1829-1834 dienen (Abb. 166 M, U).
Diese kuriose massive Schrift hat um die Mitte des 19. Jahrhunderts wohl nur in
jener der Caslonschen Schriftgießerei um 1854 eine Analogie, aber die Imitation
plastischen Materials beruht hier nur auf der Nachahmung wellig gefalteter Bänder,
in deren einzelnen Falten je ein Buchstabe der fetten Italika von recht gewöhnlichem
Schnitt Platz findet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht sich ein be¬
stimmter quantitativer und qualitativer Verfall in der Produktion ornamentaler Va¬
rianten der plastischen fetten Antiqua bemerkbar, aber neue Schriften dieser Art
werden dafür auch in den Ensembles kleiner Alphabete hergestellt, wie zum Beispiel
die Schrift, die in unserer Probe durch den Buchstaben G vertreten ist und zu dieser
Zeit häufig in Wiener und deutschen Schriftgießereien auftritt.
Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind auch die plastischen unter¬
legten Antiquaschriften sehr häufig, und noch häufiger sind sie in der zweiten Hälfte
dieses Jahrhunderts. In den Musterbüchern der englischen, französischen und deut¬
schen Schriftgießereien dieser Zeit finden wir die verschiedensten lichten und vollen
Schriften solcher Art, mit einem vertikal oder horizontal schraffierten, netzartig oder
ornamental unterlegten Hintergrund, aber keine dieser Schriften, deren erste datierte
Probe 1832 bei Thorowgood erschien, war an und für sich in irgendeiner Weise ein
bemerkenswerter Beitrag. Die eigentliche Schriftzeichnung wurde hier jeweils in den
grundlegenden und nur schattierten breiten oder schmalen Formen ausgeführt, die
wir bereits kennengelernt haben, und darum können wir uns mit Recht in diesem Fall
auf ihre bloße Erwähnung beschränken.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich in der englischen und französi¬
schen Buchtypographie Tendenzen einer Neorenaissance zu zeigen, die sich auch sehr
bald auf die Akzidenzschriften übertrugen. Hierdurch inspiriert, entstand eine zahl¬
lose Reihe verschiedenster Varianten von Antiqua- und Italika-Akzidenzschriften, aus
denen allmählich alle Spuren des verachteten schriftkünstlerischen Klassizismus ver¬
schwanden, leider aber gewöhnlich unter dem angehäuften Ballast schriftkünstleri¬
scher Willkür und Dekadenz. Die fette Antiqua hielt sich hier und da in verhältnis¬
mäßig reinen Formen, aber mit einigen Zugeständnissen an die neue Mode. Das kam
in den besten Beispielen gewöhnlich nur darin zum Ausdruck, daß die Serifen sehr
deutlich Kehlungen erhielten, während die übrige Grundzeichnung und ornamentale
Behandlung traditionell blieb. Aus den zahlreichen Schriften dieser Art genügen zur
Illustration vielleicht drei Varianten in unserer Probe (Abb. 165), wobei die Buch¬
staben A und В aus der französischen Typographie am Ende des 19. Jahrhunderts aus¬
gewählt sind und die Buchstaben С und D aus dem Ensemble eines großen und kleinen
Alphabets der Zeit knapp um 1900 stammen und von der Berliner Schriftgießerei
Berthold A. G. geliefert wurden. Sicher etwas älter ist die sehr breite fette Antiqua
der Wiener Hofdruckerei, die in unserer Probe durch die Buchstaben E und F ver¬
treten ist und gleichzeitig ein außergewöhnlich seltenes Beispiel einer konsequenten
Perspektivschrift darstellt. Ihren Autoren genügte die sehr energische Veranschau¬
lichung der Aufsicht nicht, weshalb sie noch die Andeutung eines Widerscheins ähnlich
einer Spiegelung im Wasser hinzufügten. In zahlreichen Schriften dieser Spätperiode
sind die Merkmale verschiedener Schrifttypen recht vermischt, und so formal unbe-
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