DIE SOG. VERFALLSGHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
delliertem Schatten, so daß die Schrift den Eindruck der Seitenansicht erweckt (Abb.
163 A-E). Zeichnerisch weniger vollendet ist die Medausche Probe einer anderen
perspektivischen Antiqua-Majuskel (Abb. 163 F-I), bei der die Krümmung der Bal¬
kenenden der Buchstaben E und F an den Stellen der Serifen etwas stört, die aber im
übrigen ein sehr anschauliches Beispiel einer perspektivischen Schrift in Aufsicht dar¬
stellt. Dieselbe Schrift kam auch in England vor, und zwar in Wilsons Musterbuch
von 1843.
Die lichten plastischen Antiqua- und Italikaschriften bzw. die Perspektivschrift-
Versalien sind nur die erste Stufe zu den eigentlichen ornamentalen dreidimensionalen
Schriften des 19. Jahrhunderts. Den Übergang zu diesen stellt die plastische umsto¬
chene Antiqua dar; sie weist ein vollgefärbtes Bild auf, das durch eine zusätzliche
Umrißlinie hervorgehoben ist und in dem der entsprechende Schatten aller Bestand¬
teile der Schriftzeichnung hinzugefügt wurde. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhun¬
derts war dieser Schatten anscheinend völlig schwarz, wie bei den Antiqua-Versalien
aus Medaus Musterbuch (Abb. 164 A, B). Eine ähnliche dunkle umstochene plastische
Antiqua, aber mit lichten Schatten, trat in England erst um 1874 bei Austin Wood,
dafür aber im Ensemble eines großen und kleinen Alphabets in Erscheinung (Abb.
164 C, D, e). Es ist interessant, daß allen diesen im wesentlichen eigentlich noch un-
dekorierten Formen der plastischen Antiqua sehr plastische, mit Dekor ausgefüllte
und sogar auch ornamentierte Schriften vorausgingen, unter denen die älteste eine
sehr edle, wenn auch recht massive umstochene Antiqua mit einem einfachen nega¬
tiven Dekor und doppeltem, vollem und lichtem Schatten ist, die erstmalig bereits
1809 in Frankreich aufgetaucht sein soll, danach in Deutschland und auch im übrigen
Mitteleuropa, aber erst 1846 bei Vincent Figgins in England vorkommt (Abb. 166
E, O). Graphisch sehr wirkungsvoll und dekorativ ist auch eine lichte Antiqua mit dem
einfachen positiven Ornament, die im Jahre 1816 von der Schriftgießerei Blake, Gar¬
net & Co. herausgegeben wurde (Abb. 166 B). Nicht minder gemäßigt im Dekor sind
auch die alten französischen Antiqua-Versahen (Abb. 166 A, F, P, S), die aus der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, ebenso wie die mit etwas reicherem ne¬
gativem Dekor verzierte und mit schraffiertem Schatten versehene Antiqua aus Me¬
daus Musterbuch (Abb. 166 C, N). Einen einfachen Dekor zeigt eine weitere Probe
Medaus (Abb. 166 H), ebenso wie der Buchstabe K, der der Gaslonschen Schrift von
1821 entnommen ist, in dieser wird jedoch bereits ein Streben nach Plastizität der
ornamentalen Behandlung der Flächen der fetten Züge deutlich. Mit einer ganz und
gar auf diese Weise ornamentierten Schrift kam 1824 Edmund Fry gleichzeitig in zwei
Varianten (Abb. 166 I, I), in dieser Beziehung übertraf ihn aber 1842 die Firma
Wood & Steele mit einer in der plastischen Modellierung der Balusterschäfte noch
stärker barockisierten Schrift (Abb. 166 L). Dieselbe Firma gab im gleichen Jahr auch
eine auf das reichste dekorierte Antiqua aus den Schriften heraus, die N. Gray in ihrer
Arbeit reproduziert (Abb. 166 T). Die schwarze, nicht sehr fette Schriftzeichnung mit
dem einfach schraffierten Schatten ist von barock stilisierten Rankengewächsen um¬
wunden, die den ganzen Rest des freien Raumes am Schriftkegel ausfüllen und tief
unter die Grundlinie reichen. Aus derselben Schriftgießerei kam zuvor im Jahre 1838
eine Schrift, die uns als besonders anschauliches Exempel einer illustrativen Lösung
des Dekors einer fetten plastischen Antiqua dienen kann, in deren horizontal schraf¬
fierten Flächen der fetten Züge in diesem Falle genrehafte Szenen mit Haustieren und
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162. Ornamentale fette plastische Antiqua. A. Haase, nach 1850.
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'63. Fette Perspektiv-Antiqua des ig. Jahrhunderts.
r.64. Umstochene fette plastische Antiqua des ig. Jahrhunderts.
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165. Fette plastische Neorenaissance-Antiqua des ig. Jahrhunderts.
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