DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
entstand durch Brechung der normalen klassizistischen Italika-Versalien nach einer
horizontalen Achse in der Mitte der Schrifthöhe, so daß die untere Hälfte der Schrift¬
zeichnung eine Neigung nach rechts und die obere eine nach links hat, wodurch die
Schrift eine dynamische, rechtsgerichtete Tendenz erhält.
Es ist verwunderlich, daß wir in der Kategorie der ornamentalen flächigen Akzi¬
denz-Antiqua und -Italika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht der Form
begegnen, mit der wir zum Beispiel die Übersicht der ornamentalen Barockschriften
einleiteten, nämlich der Kontur-Antiqua oder -Italika. Sehr frühzeitig, schon in den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, taucht aber in der englischen Typographie
eine flächige schattierte fette Antiqua und Italika auf (Abb. 158 A-D). Die englischen
Dessinateure knüpften in diesem Fall direkt an die Zeichnung der sehr reizvollen, uns
bereits bekannten flehten Antiqua des Ubergangstypus an, die William Caslon-Sohn
schon 1784 herausgab, sie übertrieben aber die Schattierung des Schriftbildes so, daß
das Schwarz des Schattens in den fetten Zügen entscheidend überwiegt. In den orna¬
mentalen flächigen Antiquaschriften, bei denen der Schatten weniger Platz einnimmt,
wird gewöhnlich der Rest der Flächen der fetten Züge auf verschiedene Weise de¬
koriert. Eine sehr hübsche, mit einem einfachen dekorativen Element auf diese Weise
ausgefüllte Antiqua mit noch recht breiter Schattenkontur der sehr fetten Schäfte
brachte zum Beispiel bereits 1816 die Londoner Schriftgießerei Blake, Barnet & Co.
heraus (Abb. 158 H). Eine andere mit einer Wellenlinie reicher dekorierte, aber ma߬
voller mit Schattenkonturen ergänzte Antiqua dieser Art führte Vincent Figgins im
Jahre 1824 ein (Abb. 158 I). Zuvor erschien 1821 in der Caslonschen Schriftgießerei
eine dekorativ ausgefüllte Antiqua gleicher Art, aber mit einer Schattenkontur an der
linken Seite der Schäfte (Abb. 158 F). Eine andere Art von Dekor der schattierten
fetten Antiqua aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte С W. Medau in
seinem bereits zitierten Musterbuch aus der Zeit vor 1850 (Abb. 158 K). Typisch für
die französische Schriftkunst ist sodann der feine Dekor einer weiteren fetten Antiqua,
die bis heute die Pariser Schriftgießerei Deberny & Peignot auf Lager hat (Abb!
158 L). Unter den Beispielen der schattierten Kontur-Antiqua, die sich vom Prinzip
der flächigen Behandlung noch nicht weit entfernten, muß man eine hohle, innerhalb
des Schriftbildes sehr ausgeprägt schattierte, aber sonst nicht dekorierte Antiqua er¬
wähnen, die von der Firma Blake, Garnet & Co. im Jahre 1816 herausgegeben wurde
(Abb. 158 G). Als Beispiel einer ornamentalen flächigen fetten Antiqua seien hier
noch die nichtschattierten Schriften aus dem Musterbuch С W. Medaus und der
Wiener Hofdruckerei angeführt (Abb. 158 E, M). Beide sind auf sehr einfache Weise de¬
koriert und unterscheiden sich nur durch die Flächenbehandlung der fetten Züge, die
im ersten Fall horizontal schraffiert und im zweiten voll gefärbt sind. Alle diese und
viele der folgenden ornamentalen Schriften können wir hier leider größtenteils nur
durch einen einzigen Buchstaben belegen, denn in den alten erhaltenen Musterbü¬
chern sind, ähnlich wie in den modernen, nur selten ganze Alphabete angeführt. Aber
selbst wenn das der Fall wäre, müßten wir bei diesen Schriften in gleicher Weise ver¬
fahren, da ihre Zahl auf mehrere hundert verschiedene Varianten geschätzt wird.
Darum müssen wir uns mit Beispielen einzelner Buchstaben begnügen, die aber zum
besseren Vergleich durch Vergrößerung oder - wenn auch weniger häufig - Ver¬
kleinerung auf die gleiche Größe gebracht wurden.
Mit den wenigen Proben ornamentaler flächiger Antiqua- und Italikaschriften, die
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ібо. Englische plastische lichte fette Antiqua. R. Thome, um 1810.
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