DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
1835 von der Caslonschen Schriftgießerei herausgegeben, und auch die besonders
breite und niedrige fette Antiqua, die G. W. Medau aus Leitmeritz in seinem zitierten
Musterbuch anführt, wird kaum viel jünger sein.
Alle diese breiten fetten Antiquaschriften zeichneten sich durch den konsequenten
Grundschnitt der klassizistischen Buch-Antiqua aus, vor allem die flachen haarfeinen
Serifen ohne Kehlung zu den fetten Schäften. Die Kehlung blieb hier aus technischen
Gründen, ähnlich wie bei den klassizistischen Buchschriften, nur bei den haardünnen
Zügen erhalten. In Frankreich waren jedoch im 19. Jahrhundert Varianten der fetten
Antiqua sehr beliebt, die man alsaciennes, die elsässischen nannte; ihre sämtlichen
Serifen wurden mit zwar sehr diskreter, aber das Gesamtaussehen der Schrift sehr
deutlich beeinflussender Kehlung versehen.
Auf dem hinsichtlich der Proportion entgegengesetzten Prinzip beruht eine weitere
Hauptvariante der fetten klassizistischen Antiqua, die schmale fette Antiqua des klassi¬
zistischen Typus, die als eine sehr fette und deshalb nur wenig verengte Form im
Jahre 1832 erstmalig von Vincent Figgins und nach ihm etwa 1838 von William Tho¬
rowgood in einer viel konsequenteren Ausführung herausgebracht wurde. Der Weg
zu dieser Lösung bot sich allerdings im Beispiel einiger sehr komprimierter englischer
Buchschriften klassizistischen Schnittes an, und es ist eigentlich verwunderlich, daß
es erst so verhältnismäßig spät dazu kam. Dieser Vorgang bewirkte aber zusammen
mit dem klassizistischen Prinzip der uniformen Breite eine starke Überlastung des
Bildes mancher Lettern, zum Beispiel des Versals M, im Verhältnis zu anderen Buch¬
staben des Alphabets. Sehr deutlich wird das bei den besonders engen fetten Antiqua¬
schriften, die der Schriftgießer Wilson 1843 mit seiner Schrift in England einführte.
Nichtsdestoweniger ist diese im ursprünglichen reinen Schnitt - keinesfalls aber in den
späteren Abarten, die konfuserweise als Aldinen bezeichnet wurden - von nicht ge¬
ringer graphischer Wirkung und graphischem Reiz. Dies gilt vor allem für die größeren
Schriftgrade auf geglättetem Papier, wo der ausgeprägte Kontrast zwischen den Haar¬
strichen und den vertikalen Flächen satter Schwärze voll zur Geltung kommen kann.
Von dieser Art ist z. B. auch die Schrift, die im englischen Buchdruck erneut häufig
vorkommt und deren Schnitt sich am ehesten mit der Wilsonschen Schrift von 1843
identifizieren läßt (Abb. 156).
Auch die schmale fette Antiqua wurde sehr bald durch ein kleines Alphabet er¬
gänzt, und С W. Medau in Leitmeritz weist sie im Schnitt der Schrift von Vincent
Figgins von 1832 gleichfalls in seinem Musterbuch nach. In Frankreich war noch in
der Mitte des 19. Jahrhunderts mit beiden Alphabeten eine konsequente schmale fette
Antiqua geläufig (Abb. 157), bei der als besonderes Merkmal für den lokalen Ursprung
einerseits die charakteristische Form des g die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, anderer¬
seits die elliptische Krümmung der Buchstaben C, D, G, О und Q,, die in den engli¬
schen Varianten eher oval zu nennen sind. Die gleiche Schrift mit nur unerheblich
abweichendem Schnitt gießt heute unter der Bezeichnung Liliom die Pariser Schrift¬
gießerei Fonderie Typographique Française, zweifellos aus den Originalmatrizen des
19. Jahrhunderts.
Die fette Antiqua mit der fetten Italika wurden sehr rasch zu gefragten Schriften
für Plakate und andere Akzidenzdrucksachen; im Laufe der Zeit kamen auch ihre
ganz kleinen Schriftgrade zu großer Bedeutung, aber auf einem Fachgebiet, für das
sie ursprünglich nicht gedacht waren. Sie wurden nämlich zu einer fast unvermeid-
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15J. Französische schmale fette Antiqua des ig. Jahrhunderts.
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