DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
legen schon im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Zeugnis davon ab, daß die
neue Schrift nicht so ganz verdammenswert war. Trotz des ablehnenden Urteils sol¬
cher Kenner wie Hansard erfreute sich die fette Antiqua überraschend schnell großer
Beliebtheit und gewann Nachahmer nicht nur in England, sondern auch auf dem
Kontinent, wo sie sich eine außerordentlich autoritative Anerkennung durch die Auf¬
nahme in die Pariser Imprimerie Royale erwarb, die sich im Jahre 1819 von Robert
Thorne als dem ersten Ausländer eine Serie Schriften dieses Schnittes bestellte.
Die hier angeführten ersten fetten Antiquaschriften wurden vorläufig alle nur in
Garnituren des großen Alphabets hergestellt. Aber schon 1821 wird in den Muster¬
büchern zweier Konkurrenten, Figgins' und Thorowgoods, gleichzeitig eine fette
Antiqua im Ensemble beider Alphabete auf den Schriftgußmarkt gebracht. Unter
diesen Schriften ist besonders die fette Antiqua William Thorowgoods bemerkenswert,
bei der das Prinzip der maximalen Verstärkung der fetten Züge zweifellos bis ins
Extrem getrieben wurde. Wählen wir zum Beispiel nur die Zeichnung des Buchstabens О
in beiden Alphabeten aus, so erkennen wir, daß Thorowgood in dieser Richtung
tatsächlich nicht weitergehen durfte, wenn er das Zusammenfließen des Schriftbildes
zu einem vollen Kreis von Druckerschwärze verhindern wollte. Während man dem
breiten, dunklen und graphisch wirkungsvollen dekorativen Bild dieser Hochform
einer fetten Antiqua eine nicht alltägliche Qualität in den entsprechenden Grenzen
ihrer Verwendung nicht absprechen kann, war ihre weitere Ergänzung, die man durch
Übertragung dieser Verfettungstendenz auf die klassizistische Italika erzielte, sicher
weniger glücklich. 'Die fette Italika des klassizistischen Typus, die sich in Versalien
erstmalig schon im Musterbuch der Caslonschen Schriftgießerei von 1808 findet und
im kleinen Alphabet derselben Firma im Jahre 1821 erscheint, ist wirklich schon
mehr Beispiel einer unerwünschten Konsequenz als einer durch tatsächlichen Bedarf
hervorgerufenen Form. Mit der ihnen eigenen ursprünglichen Kursivität der Schriften
dieser Klasse hat die Akzidenz-Italika noch weniger gemeinsam als die klassizistische
Buch-Italika, also praktisch fast nichts. Es blieb hier im wesentlichen nur die Neigung
der Schriftachse übrig, und diese ist bekanntlich an sich kein entscheidendes Merkmal
der Kursivität, die in der fetten klassizistischen Italika höchstens das Vorkommen der
einbäuchigen Form des Buchstabens a charakterisiert. Bei dieser Gelegenheit muß man
auch noch an eine besonders kuriose Form erinnern, wie sie die linksgeneigte fette Italika
darstellt, die Vincent Figgins im Jahre 1821 herausgab. In der Probe dieser Italika,
ebenso wie seiner und Casions normaler fetter Italika aus dem gleichen Jahre fesselt
besonders die 'kalligraphische' Biegung und der Ansatz des ersten Strichs der Versa¬
hen A, M und des Schlußstriches beim W.
An der Zeichnung der fetten Antiqua vom Beginn des 19. Jahrhunderts kann man
feststellen, daß ihre Proportionen im Lauf der Zeit merklich breiter werden. Darum
könnte diese Schrift, mit der wohl alle englischen, französischen, deutschen und ame¬
rikanischen Firmen in praktisch gleichen Versionen das ganze 19. Jahrhundert hin¬
durch den Schriftguß-Weltmarkt versorgten, genauer als breite fette Antiqua bezeichnet
werden. Für England war zu dieser Zeit anscheinend eine ziemlich gemäßigte fette
Antiqua und Italika nach dem Schnitt von Figgins und Caslon aus dem Jahre 1821
typisch. Ebenso häufig ist jedoch die viel breitere englische fette Antiqua des 19. Jahr¬
hunderts, deren Alphabet Thibaudeau bringt (Abb. 151), und die fette Italika vom
Anfang dieses Jahrhunderts, die heute unter der Bezeichnung Thorowgood Italic von
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ABCDEFGHIJKL
M1YOPQRSTUWX
YZ 125456789 ab
cdef^hijUlmn opqrstu
vwxyzABCDEFGH
IJKLMNOPQRST
UVWXYZ І23436
t
7890 abcdefghijklmn
opqrstuvwxyz
153. Französische breite fette Antiqua und Italika.
Pierre Didot l'Aîné, um 1820.
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