DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
trennen, die die allgemeine Bewunderung und das Imitieren älterer Stilperioden in
der romantischen Welle der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begleiteten. Beson¬
ders typisch sind für diese Zeit einige wenige pseudogotische Schriften, während uns
die pseudobarocken eher das Jahrzehnt vor der Mitte dieses Jahrhunderts zu charak¬
terisieren scheinen, obwohl sie auch später keineswegs Ausnahmen darstellten. Mit
dem Auskhngen des 19. Jahrhunderts gewinnen dann ein immer stärkeres Überge¬
wicht die sehr verschiedenen Jugendstil- oder Sezessionsschriften, die nur selten und eher
in Gebieten außerhalb der Typographie bemerkenswert sind. Ich gebe zu, daß ich
diese Tatsache nur mit Bedauern konstatiere, im übrigen teile ich keineswegs die bei¬
nahe allgemeine Meinung von der Verdammungswürdigkeit des Jugendstils, dieses
letzten Beispiels einer Universalität des Stils in der Geschichte der europäischen
Kunst.
Alle diese eben genannten Gesichtspunkte zur Einteilung der Akzidenzschriften
würden aber, für sich allein als Hauptrichthnie der Klassifikation angewandt, ebenso¬
wenig einen genügend klaren Überblick über die Formen gewähren, wie es die exakt
chronologische Aufzählung gestattet, an die sich N. Gray hielt. Einen viel anschauli¬
cheren Überblick über diesen reichen Stoff gibt meines Erachtens die sukzessive An¬
einanderreihung der Grundformen, die größtenteils auch unter der ornamentalen
Behandlung sichtbar sind ; wir werden diese dann nach den obengenannten Prinzipien
in jedem typischen Fall charakterisieren. Ein solcher Überblick wird natürhch durch
die AKZIDENZ-ANTIQUA UND -ITALIKA eingeleitet, die beide aus den ältesten
Grundformen abgeleitet sind. Auf der Suche nach den ältesten Beispielen einer Akzi¬
denzbehandlung der Antiqua müßten wir in der Geschichte aber sehr weit zurück¬
gehen, denn schon in der Periode der Erstdrucke waren bekanntlich dekorative holz¬
geschnittene Antiqua-Versalien keine Seltenheit. Als die ersten derartigen Schriften,
die wirkliche Druckschriften waren, kann man einige verzierte Buchschriften aus der
Periode des Rokokos ansehen, wie sie bis heute im Akzidenzsatz benutzt werden. Die
erste Schrift aber, deren Grundform ausgesprochenen Akzidenzcharakter hatte und
ausschließlich für diese Art der Typographie bestimmt war, war eine unmittelbare und
konsequent abgeleitete Modifikation der klassizistischen Antiqua, àie. fette Antiqua des
klassizistischen Typus. Obwohl die Entwicklung schon durch einige besonders kon¬
trastreiche Schriften Firmin Didots und G. B. Bodonis in diese Richtung gelenkt
worden war, entstanden gerade in England, dem Schauplatz der industriellen Revo¬
lution, zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast gleichzeitig einige Garnituren der fetten
Antiqua dieses Typus, die in der Form schon vollendet und für die Akzidenztypo¬
graphie des 19. Jahrhunderts besonders typisch waren.
Mehrere dieser Schriften aus ungefähr gleicher Zeit erschweren jedoch die Lösung
der Frage, wem die Priorität der Entdeckung dieser neuen Schriftform gebührt, denen
auf dem Boden Englands schon an der Wende des 18. Jahrhunderts Alexander Wilson,
Edmund Fry, John Bell, Wilham Cottrell mit ihren Schriften den Weg bereiteten, und
vor allem der bereits erwähnte Schriftgießer Robert Thorne, dem überhaupt das Haupt¬
verdienst an der Einführung der Schriften des klassizistischen Typus in England ge¬
hört. Robert Thorne kommt zunächst auch als Autor des Schnittes der ersten fetten
Akzidenz-Antiqua des klassizistischen Typus in Betracht, denn für ihn spricht in diesem
Sinne das Zeugnis der zeitgenössischen englischen Theoretiker im Bereich der Typo-
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151. Englische breite fette Antiqua des ig. Jahrhunderts.
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