DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Das Vorurteil, mit dem Autoren von Büchern über die Schrift, die sich vor allem
mit der Entwicklung der Buchschriften befassen, an die Frage der Akzidenzschriften
und vor allem der ornamentalen Schriften des 19. Jahrhunderts herantreten, verleitet
allgemein zu einer Abwendung vom Schriftwesen dieser Art, die sich gewöhnlich in
einer ungebührend kurzen und mehr oder weniger schroffen Verurteilung äußert. Für
die Revision dieser allgemeinen Ansicht sprachen sich zwar gelegentlich einige wenige
Kenner aus, aber an der Analyse und Klassifikation aller Akzidenz- und Ornamen¬
talschriften des 19. Jahrhunderts hat sich bisher nur die enghsche Forscherin Nicolette
Gray in ihrer Arbeit Nineteenth century ornamented types and title pages, London
1938, versucht. Obwohl ich im weiteren Text mehrfach stark von ihren Auslegungen
und Grundsätzen abweiche, auch schon beispielsweise in der Klassifikation, werde
ich dennoch im wesentlichen von dieser englischen Arbeit ausgehen. Ich betrachte sie
als Hauptquelle der Belehrung und berücksichtige dabei auch, daß sozusagen die
ganze Entwicklung dieser für Europa und Amerika gemeinsamen Schriftkunst auf dem
Boden Englands verhef.
Die Grundform der Akzidenzschriften kommt entweder in ihrer nackten Gestalt
vor, oder sie ist auf sehr verschiedene Weise in den Grenzen zweier graphisch aus¬
zudrückender Hauptprinzipien dekoriert, wonach sich die Schriften dieser Kategorie
allgemein in flächige und plastische oder dreidimensionale einteilen lassen. Nach den
graphischen Eigenschaften und der ornamentalen Behandlung beurteilt, können die
flächigen Akzidenzschriften durch mehrere Typen charakterisiert werden, die aber nur
selten in reinen, unvermischten Formen vorkommen. An erster Stehe müssen die
vollen Schriften angeführt werden, bei denen die Grundform im ursprünghchen, voll
gefärbten Bild erhalten ist. In diese Gruppe können zwar alle Akzidenzschriften in
der Grundform eingereiht werden, aber es überwiegen die Varianten, bei denen einige
ornamentale Elemente die Grundform begleiten. Auf dem entgegengesetzten Prinzip
beruhen die Konturschriften oder hchten Schriften, wie sie in den Musterbüchern der
Drucker gewöhnlich bezeichnet werden. In diesen Schriften bleibt die Schriftzeich¬
nung, ebenso wie bei ihren Renaissance- oder Barockanalogien, von Farbe frei, sie
wirkt nur durch den schwachen Strich der Kontur. Manchmal wird dieser Umriß
noch durch eine weitere Kontur betont; dann charakterisiert man sie als Schriften mit
doppelter Kontur. Das Ergebnis einer kleinen Modifikation dieses einfachen Prinzips der
ornamentalen Verarbeitung sind umstochene Schriften, bei denen das voll gefärbte Grund¬
bild außerdem durch eine schwache Umrißhnie hervorgehoben wird. An Stelle der
kompakten Schwärze des Schriftbildes dieser Schriften werden die schraffierten Schriften
mit dem Grau horizontaler oder vertikaler Linien ausgefüllt, die manchmal in der
Mitte oder an den Enden schwächer werden. Eine weitere formale Variante sind
dekorierte Schriften, bei denen die Grundform mit mehr oder weniger reichen, gewöhn¬
lich negativen Ornamenten ausgefüllt ist. Ein besonders schönes Beispiel einer solchen
Lösung steht die verzierte, uns bereits bekannte klassizistische Schrift Pierre Didots
l'Aîné dar. Dieser Kategorie kann man auch verschiedene illustrierende Schriften zu¬
ordnen, bei denen die dekorative Füllung durch nicht ornamentale zeichnerische Ele¬
mente und Motive aus dem Bereich der freien Graphik vertreten ist, wie z. B. Stil¬
leben, genreartige figurale Szenen u. ä. Ein weiteres Beispiel für das flächenhafte
Prinzip der ornamentalen Behandlung sind die ornamentierten Schriften, die damit eigent-
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AKZIDENZSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
lieh konstruktiv deformiert werden. Mit der Deformation der grundlegenden Buch¬
stabenkonstruktion ist hier nichts prinzipiell Schlechtes gemeint, denn durch eine
solche Deformation kam z. B. P. S. Fournier zu seinen hebenswerten Antiqua- und
Italikaschriften im Rokokostil, die als Schmuckschriften bis heute beliebt sind. Der
Begriff Deformation erhält aber schimpfliche Bedeutung bei einigen Schriften des 19.
Jahrhunderts, mit denen wir uns noch befassen werden. Auf einem ganz anderen
Prinzip beruhen die unterlegten Schriften, wie mangels besserer Bezeichnung jene Druck¬
schriften genannt werden, die mit einem schraffierten, ornamentalen, oder auch ein¬
heitlich schwarzen Hintergrund unterlegt sind, wobei man sie jedoch im letzteren Fall
in der üblichen Praxis als negative Schriften bezeichnet. Gewöhnlich pflegt jedoch ein
lichtes negatives Schriftbild vor einem anders gearteten Hintergrund zu stehen.
Wenn es sich auch in den bisher genannten Fällen um Möglichkeiten einer flächigen
Dekoration von Akzidenzschriften handelt, so bedeutet das noch nicht, daß diese nur
den flächigen Akzidenzschriften vorbehalten sind. Ganz im Gegenteil werden alle
diese Möghchkeiten auch bei den Akzidenzformen verwendet, die man zusammen¬
fassend als dreidimensionale Akzidenzschriften charakterisieren kann. Bei der Einteilung
nach Art und Maß der nachgeahmten Raumwirkung müssen hier vor allem die
schattierten Schriften angeführt werden, da sie die einfachste Form dieser Art darstellen
und mit ihrem Prinzip grundlegend sind. Als erste Keimform dieser Schriften kann
man bereits die Antiqualettern des Renaissance- und Übergangstypus anführen, bei
denen die starken Züge durch Umrißkonturen - eine schwächere und eine mehr oder
weniger verstärkte - hervorgehoben werden. Einen stärkeren Eindruck von Drei-
dimensionahtät erreichten àie plastischen Schriften durch die Vereinigung der schweren,
schwarz oder grau schraffierten Schatten mit hchten Konturschriften, oder umgekehrt
von lichten Schatten oder eigentheh Lichtern mit dunklen vollen Schriften. Eine
andere Variante stellen die doppelt schattierten Schriften dar, die einerseits einen vollen,
andererseits einen begleitenden schraffierten Schatten aufweisen, der die Härte des
ersten mildert. Eine weitere Modifikation dieses Prinzips sind die innen schattierten
Schriften, die ein hohles Schriftbild vortäuschen und manchmal von äußeren Schatten
begleitet sind. Die äußerste Grenze, zu der sich das Bemühen um Räumlichkeit vor¬
wagte, sind die Perspektivschriften, die aus der Ebene der Druckfläche heraustreten,
nämlich Ensembles von Lettern, die ein 'perspektivisches' Verlaufen der horizontalen
Linien nach hinten vortäuschen, wozu eine ausgeprägte Schattengebung beiträgt.
Andere Schriften dieser Art wurden aus der Auf- oder Untersicht gezeichnet. Unter
den dreidimensionalen Ornamentschriften muß man schheßhch verschiedene Imita¬
tionsschriften anführen, wie ich alle Schriften charakterisieren möchte, bei denen die
grundlegende Schriftzeichnung eine Zusammensetzung aus verschiedenem nichtgra¬
phischem Material vortäuscht, wie Perlen, Bänder, Locken, Stein, Blech u. ä. Eine
charakteristische, ziemlich oft vertretene Variante dieser Art sind Schriften, denen
man den Namen rustikale Schriften geben könnte, da sich ihre Schriftzeichnung aus
Zweigen, Hölzchen, Balken, Mauerwerk u. ä. zusammensetzt.
Wenn man sie vom Standpunkt der Stilverwandtschaft des Dekors vergleicht, kann
man die ornamentalen Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts ebenfalls in mehrere
Typen unterteilen oder als solche charakterisieren. In diesem Fall kann man unter¬
suchen, wieweit die eine oder andere Schrift tatsächheh klassizistisch ist oder dem
Empire zugeordet werden kann. Von diesen kann man dann die Pseudostilschriften
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