DIE SOG. VERFALLSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
Schwierigkeiten, die im Verhältnis zur wachsenden Schärfe des Konkurrenzkampfes
zunahmen, erzeugten einen ganz neuen, besonders in dieser Form und in solchem
Umfang unbekannten Bedarf an Propaganda. Dazu gehörten auch die manchmal gar
nicht wählerischen Mittel, deren Wert nur nach der Fähigkeit gemessen wurde, Auf¬
merksamkeit zu erregen und die Kauflust möglicher neuer Kunden zu erhöhen. Bald
stellte man fest, daß der Erfolg der industriellen und kulturellen Propaganda vor allem
von ihrer Neuheit und dem Ungewöhnlichen dieser Mittel abhing, und es ist natürhch,
daß dieser Tendenz das allzu einfache und im Stil allzu einheitliche typographische
Repertoire der Drucker, also der Lieferanten des meisten Propagandamaterials, nicht
voll gerecht werden konnte. Diesem neuen Bedarf des Buchdrucks kamen aber die
Schriftgußfirmen sehr bereitwillig entgegen, die hier eine günstige Gelegenheit zur
Erhöhung des eigenen Umsatzes sahen. So kommt es zur Entwicklung einer ganzen
Gruppe von Schriften, die in den Setzereien als Akzidenzschriften bekannt sind. Die
Schriften dieser Kategorie sind zum Unterschied von den Buchschriften zum Setzen
von Akzidenzdrucken, also Geschäfts- und Privatdrucksachen, bestimmt und be¬
schränken sich demnach auf das Gebiet ephemerer Gelegenheitsdrucke am Rande
der eigentlichen, dem Buch gewidmeten Aufgabe des Buchdrucks. Die lichten Kontur-
und Zierschriften Pierre Simon Fourniers, die heute in den Musterbüchern der Druk-
kereien gewöhnhch unter den Akzidenzschriften angeführt werden und neben anderen
in gewisser Hinsicht allerdings Vorgänger der Schriften dieser Gruppe sind, waren
vor allem zum Satz und zur zeitgemäßen Ausschmückung von Buchtitelblättern be¬
stimmt. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts brachte jedoch die enghsche Schrift¬
gußindustrie die erste von mehreren Schriften auf den Markt, die ausdrücklich zum
Satz von Plakaten, Prospekten, Inseraten und anderen Reklamedrucken bestimmt
waren, obwohl sie auch anderweitig verwendet werden konnten.
Auf die ersten dieser Schriften folgten sehr rasch immer wieder neue, und sie
wuchsen bis heute zu einer nicht mehr in Zahlen zu fassenden Menge an, die mangels
formaler Verwandtschaft kaum zu klassifizieren ist. Dem Versuch, sich in diesem
Chaos der verschiedensten Varianten von Akzidenzschriften, die sich seit Beginn ihrer
überstürzten Entwicklung anhäuften, zu orientieren, kann auch die Fachliteratur der
Welt nur wenig behilflich sein, da sie diese Zeit entweder unterschätzt oder aus einem
eng begrenzten Bhckwinkel speziellen Interesses studiert. Nach einer bestimmten Zeit
geduldigen Vergleichens sehen wir aber, daß man hier doch einige Grundsätze der
Klassifikation abstecken kann. Wir erkennen, daß beinahe alle Akzidenzschriften, auch
die höchst dekorativen, in sich eine charakteristische Grundform verbergen, und da¬
durch bietet sich natürhch sofort eine Einteilung in zwei Hauptgruppen an, nämhch
eine erste, die die Grundformen der Akzidenzschriften enthält, und eine zweite, die alle
davon abgeleiteten Schriften umfaßt, also hauptsächlich die ornamentalen Akzidenz¬
schriften. Eine solche grundsätzhche Klassifikation bringt aber einige Mängel mit sich,
wodurch die Klarheit der Übersicht und eine größere Genauigkeit der Einteilung ein¬
geschränkt werden, und darum habe ich mich entschlossen, alle diese Schriften nur
nach den Grundformen zu unterteilen und in den so umrissenen Gruppen alle for¬
malen Varianten, also auch die ornamentalen, im Zusammenhang mit der gemein¬
samen Grundzeichnung der Schrift zu untersuchen.
Wenn wir auch hier und da einer nachsichtigen Erwähnung der grundlegenden
Akzidenzschriften begegnen, so können wir doch über ihre ornamentalen Varianten
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AKZIDENZSCHRIFTEN DES XIX. JAHRHUNDERTS
fast in der ganzen Fachhteratur der Welt nichts Lobendes lesen. Beinahe alle Kenner
stimmen in einer sonst außerordentlich seltenen Einmütigkeit darin überein, daß man
die gesamte Produktion ornamentaler Akzidenzschriften des 19. Jahrhunderts ohne
Ausnahme und Gnade als unverantwortliches Zeichen schriftkünstlerischer Degenera¬
tion und Häßlichkeit verwerfen müsse. Trotz dieser Einmütigkeit des Urteils hatte
ich immer das Gefühl, daß es sich hier entweder um ein Mißverständnis, um Un¬
verständnis oder ein hartnäckiges Vorurteil handelte. Ich kann mir nicht helfen, aber
viele dieser proskribierten Schriften haben mir immer aufrichtig gefallen. Auch heute
schäme ich mich dessen nicht und zögere nicht, sie unter die schönen Schriften ein¬
zuordnen. Der ganze Irrtum in der ästhetischen Wertschätzung dieser ausgesprochen
attraktiven Schriften beruht zweifellos darauf, daß dieselben ästhetischen Maßstäbe,
die sich auf dem Gebiet der für Buchzwecke bestimmten Brotschriften gewiß zu¬
friedenstellend bewährt hatten, auf Schriften angewandt wurden, deren Entstehung
völlig anderen Anforderungen entsprang und deren Schriftzeichnung von einer ganz
anderen Aufgabe bestimmt war. Während es bei der Buchschrift eine natürliche For¬
derung ist, daß ihre Zeichnung nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken soh, als
ihrer Hauptfunktion - der leichten Lesbarkeit - zuträghch ist, muß es hingegen bei
sämtlichen Grund- und ornamentalen Akzidenzschriften gestern wie heute eine katego¬
rische Forderung sein, gerade diese Aufmerksamkeit in höchstem Maße zu erregen.
Wenn man sie als Buchschriften auffaßt, kann man die Akzidenzschriften des 19. Jahr¬
hunderts freihch als schlechte oder Verfallsschriften bezeichnen; aber der Irrtum be¬
ruht ja gerade darauf, daß es sich hier überhaupt nicht um Buchschriften handelt.
Wenn man übrigens diesen kompromißlosen Standpunkt der Utihtät, mit dem der
graphische Wert der Buchdruckschriften gemessen wird, konsequent auf die ganze
Geschichte der Buchschrift vor der Entdeckung des Buchdrucks übertragen wollte,
müßten notwendigerweise auch viele schöne Beispiele des Schriftschaffens der alten
Kalligraphieschulen verworfen werden, in dem die Nützhchkeit bekanntlich sehr oft
hinter das überwiegende Streben nach ästhetischer Wirkung zurücktrat. Die Schreiber
aller berühmten Kalligraphieschulen hatten eine eigenartige, von der eigentlichen
Bestimmung der Schrift unabhängige Schönheit im Sinn. Das Alphabet war ihnen
oft vor allem Mittel des schöpferischen Ausdrucks, mit der Schriftzeichnung wollten
sie die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln und ihm ein ästhetisches Erlebnis auch dort
vermitteln, wo es der heutige Leser nicht sucht und auch nicht findet.
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß die ersten Schriften des hochklassizistischen
Typus aus der Zeit um 1800 ein hohes graphisches Niveau aufwiesen. Aus der Tat¬
sache, daß die Buchproduktion in den folgenden Jahrzehnten allmählich zu tatsächli¬
chen Verfallsformen degenerierte, kann nicht mechanisch der Schluß gezogen werden,
daß alle Schriften dieser Zeit ohne Unterschied gleich schlecht sind. Wenn die ano¬
nymen Dessinateure und Stempelschneider der Buchschriften des 19. Jahrhunderts
den Sinn für die wahren Qualitäten der Buchschrift einbüßten, so bedeutet das noch
nicht, daß man ihnen ebenso jeden Sinn für gute Schriftkunst auf einem anderen
Wirkungsfeld absprechen muß. Dieses allgemeine Eintreten für die Schriftkunst außer¬
halb des Buchschaffens im 19. Jahrhundert darf nicht so verstanden werden, daß alle
Akzidenzschriften ohne Unterschied verteidigt werden sollen. Freilich gibt es darunter
viel zu viele Produkte, an denen man mit Recht manches aussetzen könnte, und darum
muß man diese Schriften auch sorgfältig in gute und schlechte teilen.
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