TEIL VI. DIE LATEINSCHRIFT VOM ANFANG
DES XIX. JAHRHUNDERTS
KAPITEL I. DIE SOGENANNTEN VERFALLSSCHRIFTEN
DES XIX. JAHRHUNDERTS
IM VERLAUF der Geschichte der Lateinschrift konnten wir beobachten, daß die
Kategorie der Inschriftenschriften allmählich die führende Stellung verlor, die sie im
Altertum innegehabt hatte. Ihre Rolle wurde in der Folge von der wachsenden Be¬
deutung der Buchschriften und in der Gotik auch der Kursivschriften in den Schatten
gestellt. Mit der Erfindung des Buchdrucks ging die Führung auf die Druckschrift
über, und an der Schwelle des 19. Jahrhunderts bestimmte diese schon völlig das
Gesicht der Schriftkunst. Die klassizistische Antiqua wurde für fast ein ganzes Jahr¬
hundert auch zur Schrift der Inschriften und zu jener der gesamten Buchproduktion.
In dieser Richtung war die Entwicklung der Lateinschrift demnach definitiv zu Ende,
aber neue und sozusagen unerschöpfliche Möghchkeiten ergaben sich mit den neu
entstehenden Aufgaben der Typographie außerhalb des Bücherdrucks, auf einem Ge¬
biet, das bisher keinen besonderen Anspruch auf die Ausstattung der Druckerwerk¬
stätten mit besonderen, nur für diesen Zweck bestimmten Schriften erhoben hatte.
Bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kamen die Drucker recht gut mit den
wenigen Buchschriften des zeitgenössischen Stiltypus aus, mit denen nicht nur Bücher,
sondern auch andere Drucksachen aller Art gedruckt wurden, Flugblätter, Plakate,
Zeitungen und anderes mehr. Zur Erhöhung der Attraktivität der Druckschriften
griff man ausnahmsweise auch zu verzierten Varianten der zeitgenössischen Antiqua¬
oder Italikaschrift oder zu zeitgenössischen Schreibschriftformen, soweit Druckimita¬
tionen davon vorhanden waren. Das Schriftrepertoire der alten Drucker war also im
Vergleich zum heutigen Stand sehr dürftig, es scheint aber, daß dieser Umstand ihrem
typographischen Schaffen nicht abträghch war, da sich dieses bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts nicht nur durch einen hohen Standard, sondern auch durch eine um¬
fassende, in unseren Augen beneidenswerte Stileinheit aller Druckproduktion aus¬
zeichnet. Diese Jahrhunderte währende Tradition wurde jedoch am Anfang des 19.
Jahrhunderts durch ein historisches Ereignis unterbrochen, die sogenannte enghsche
Industrierevolution, einen außergewöhnlich bedeutungsvollen Umschwung in der Ge¬
schichte der menschhchen Gesellschaft. Wie auf ahen gesellschaftlichen Gebieten -
Zivihsation, Produktion und Kultur - fand diese Revolution auch in der Schriftkunst
ihren Niederschlag, vor allem in der Typographie. Mit der Einführung neuer Ma¬
schinen hören Druckwesen und Schriftguß auf, ein Kunsthandwerk zu sein. Sie werden
zu einer Industrie und Großindustrie, bei der der ästhetische Aspekt der Produktion sehr
häufig hinter dem Interesse am geschäftlichen Erfolg zurücktritt. Der Massencharakter
der Produktion und die periodischen Absatzschwierigkeiten in ahen Industriezweigen,
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