DIE BAROCKEN ORNAMENTALSCHRIFTEN
daß sie auch ein Heines Alphabet enthält, das in der ganzen Entwicklung dieser Form
bis in unsere Zeit ziemhch einzigartig blieb. Während nämlich die Versalien einen
ausgesprochenen Charakter zeitgenössischer Kursivschriften zeigen, hat das kleine
Alphabet trotz einer Reihe von Schreibvarianten eine sehr formale und der Italika
recht nahekommende Gestalt. Auch sein Dekor ist einfacher und beschränkt sich im
wesenthchen auf eine bloße Andeutung der Baluster-Verzierung in den starken mit
Kontur gezeichneten Zügen des Schriftbildes.
Die radikale Barockisierung der Schriftzeichnung kam aber am weitesten in einer
ornamentalen Kursivform voran, die man vielleicht am besten als barocke kursive Feston¬
schrift bezeichnen könnte, denn ihre Grundzeichnung wurde hier in all ihren Bestand¬
teilen, den schwachen und starken Zügen, völhg durch einen Blumendekor gewöhnlich
sehr plastischer Girlanden, der Festons, ersetzt. Nur selten kommen solche Schriften
in einfacherer und flächiger Ausführung vor, wie das etwa bei der Ästchenzeichnung
der Kursiv der zehnten Zeile von Senaults Titelblatt der Fall ist, das uns schon so oft
als Anschauungsmaterial für unseren Überblick diente und das wir noch einmal mit
dem Hinweis auf die Schrift der neunten Zeile verwenden, ein viel typischeres und
häufigeres Beispiel einer ornamentalen Barock-Kursiv dieser Art. Wir sehen hier je¬
doch, daß das ganze Schriftbild hervorgehoben und aus plastischen Pflanzenelementen
modelliert ist. Ebenso verhält sich das bei der Zeichnung des gleichzeitigen Pouget¬
schen Alphabets der Kursiv-Majuskel in seiner Sammlung von 1666 (Taf. XLII),
oder des jüngeren Baurenfeindschen Alphabets der gleichen Art aus dem Jahre 1735
(Taf. XLIV). Eine ganze Reihe verschiedener Methoden der Ornamentierung ba¬
rocker Kursiv-Majuskeln beschert uns dann ein Alphabet, das der Madrider Kalli¬
graph D. Torquato Torio seiner Sammlung Arte de Escribir von 1798 einverleibte
(Taf. XLIII). Während bei all diesen Schriften noch eine bestimmte Ordnung in der
ornamentalen Stilisierung beibehalten wurde, ist das Schriftbild in der Probe aus dem
ähnlichen Alphabet Manoels de Andrade von 1719 (Taf. XLV) fast völlig durch frei
komponierte buschige Abschnitte von Ästen und Gezweig rustikalisiert, wo Andrade
außerdem noch plastische, reahstisch durchzeichnete Vogelfigürchen unterbrachte.
Zwar ohne diese Beigaben, aber noch stärker rustikalisiert ist schheßhch ein weiteres
und viel jüngeres Alphabet einer Kursiv-Majuskel, das uns als besonders schönes Bei¬
spiel auch bei dieser Gelegenheit wieder die reichhaltige Sammlung Pougets von 1666
vorführt (Taf. XLVI, XLVII). Die das Schriftbild kennzeichnenden Zweige sind hier
bereits mit allen Unebenheiten der Rindenstruktur und allen Zufälligkeiten des
Wuchses der Triebe mit den aufbrechenden Blättchen getreu wiedergegeben. Das
höchst dekorative und mit seinem ornamentalen Stil für die barocke Schriftkunst und
Dekoration überhaupt außergewöhnlich charakteristische kursive Alphabet ist wohl
auch der Gipfel, den die Auflösung und Rustikahsierung des Schriftbildes in dieser
Periode erreichte. Diesen Gipfel übertreffen höchstens noch zwei exklusive Schriften,
deren eme die letzte Probe aus Pougets Alphabet darstellt (Taf. XLVIII XLIX)
Jeder Buchstabe dieses Alphabets ist dadurch gekennzeichnet, daß es aus einem an¬
deren Material besteht, und keines von ihnen wurde zweimal verwendet. Es gibt hier
Buchstaben, die aus Pflanzenelementen bestehen, aus freien Blüten, Pflanzenstöcken,
Kränzen, Palmetten, Dornen, Fruchtbündeln u. ä., aber viele setzen sich auch aus
ganz anderen Elementen zusammen, aus Bändern, Perlen usw., und trotz dieser Art-
tremdheit kann man diesem Alphabet einen gewissen Reiz und Geschmack der zeich-
280
'S
145. J. F. Gleditsch, 1710.
JZjbJbJb (d¿/
Жсгежю
146. Schattierte barocke Schreibdruckschrift. J. F. Rosart, 1768.
сddej'дЬѣі]ЪІСт n ogg
r st UVW XJ/ z
147. Union Pearl. J. & T. Grover, um ібдо.
281