DIE BAROCKEN ORNAMENTALSCHRIFTEN
staltung der Serifen der langen Schäfte, die zwar gespalten, aber zu ebenfalls schraf¬
fierten Kreisen zusammengedreht wurden. Die zweite Italika Baurenfeinds ist bereits
ein Beispiel für eine Schrift, die mit dem offensichtlichen Bestreben ornamentiert
wurde, den Eindruck eines plastischen Dekors zu erwecken, der im übrigen von den
üblichen Pflanzenornamenten inspiriert ist. Die Serifen sind hier aber nur durch leichte
Spaltung der Schäfte einiger Buchstaben angedeutet. Diese beiden Methoden einer
Behandlung der gespaltenen Serifen werden dann im ersten dieser Italika-Alphabete
kombiniert, das unter allen am deutlichsten plastisch modelhert und ornamentiert und
für die barocke Schriftkunst besonders typisch ist. Die schattierten lettres fleuragées
desselben Typus sind schon im 17. Jahrhundert häufig und in einer besonders reich
ornamentierten und mit Blümchen geschmückten Form, wie wir uns überzeugen
konnten, auch in der ersten Zeile des hier angeführten Titelblattes von Senaults
Sammlung aus der Zeit um 1670 vertreten.
Wenn die so gesteigerte Barockisierung des Schriftschaffens auch zu ihrer Zeit für
ganz Europa gemeinsam ist, hatten auf diesem Gebiet zweifellos die Franzosen die
Führung, und gerade aus Frankreich kamen in dieser Periode Sammelwerke von Vor¬
lagen für höchst kühn ornamentierte Schriften, die dann im Ausland mehr oder we¬
niger schüchtern nachgeahmt wurden. Für ein Schatzkästlein besonders typischer
Muster dieser Art halte ich die sehr umfangreiche Sammlung ornamentaler Alphabete
und Monogramme, die der Pariser Kalligraph Pouget 1666 unter der recht poetischen
Bezeichnung L'Alphabet de l'Amour ou Recueil de Chiffres à l'Usage des Amants et
des Artistes herausgab, und deshalb kann ich nicht umhin, ihr einige besonders schöne
und für diese Gelegenheit geeignete Beispiele zu entnehmen. An erster Stelle muß
hier das sehr anmutige, nur kalligraphisch ornamentierte Alphabet der Antiqua- und
Italika-Majuskel mit gespaltenen Serifen genannt werden (Taf. XXXVI), das be¬
stimmt zu den besten Schöpfungen der so orientierten Schriftkunst gehört. Unsere
übrigen Proben des Pougetschen Alphabets veranschaulichen die nichtkalligraphische
barocke Schriftkunst; das Schriftbild täuscht hier die Zusammensetzung aus verschie¬
denen Materiahen vor, zum Beispiel aus fest umwundenen Lorbeergirlanden (Taf.
XXXVII) oder aus Ghedern von Zierketten (Taf. XXXVIII). Das letzte der Alpha¬
bete, die wir zunächst aus der Pougetschen Sammlung ausgewählt haben, ist eine
besonders typisch ornamentierte Antiqua-Majuskel mit gespaltenen Serifen (Taf.
XXXIX), die mit viel Geschmack aus barock stilisierten Pflanzenelementen model¬
liert wurde.
Die Dekoration und Ornamentierung der barocken Antiqua und Italika wurde ins¬
gesamt und überall nach den Grundsätzen durchgeführt, die hier bisher zusammen¬
gefaßt wurden, und mit einer einzigen Ausnahme begegnen wir in der barocken
Schriftkunst keiner anders behandelten Ornamentalschrift. Diese Ausnahme ist die
barocke rustikale Antiqua; sie erscheint im Titelblatt der Schrift De Germaniae miraculo
óptimo máximo typis literarum earumque differentiis dissertatio von P. Pater, die
1710 bei Johann Friederich Gleditsch in Leipzig gedruckt wurde (Abb. 145). Wenn
sie auch tatsächlich das einzige Beispiel einer Schrift dieser Art in der barocken Typo¬
graphie darstellt, so ist dieses Beispiel doch wegen der vollendeten Nachahmung ab¬
geschnittener und in die Form der einzelnen Buchstaben gebrachter Aststümpfe be¬
merkenswert, aber zugleich wegen des deutlichen Bemühens, auch in diesem Fall das
Prinzip der Serifenspaltung zu verwirklichen. Unter dieser Zeile befindet sich auf
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ORNAMENTALE BAROCKE KURSIV
demselben Titelblatt eine solche mit einer anderen ornamentalen Form, und zwar aus
der Klasse der Kursivschriften, die in der Schriftkunst des Barocks als Grundlage der
dekorativen Behandlung besonders behebt waren.
Nach den Gesichtspunkten der Klassifikation, die wir bei der ornamentalen An¬
tiqua und Italika des Übergangstypus anwandten, läßt sich die ORNAMENTALE
BAROCKE KURSIV ebenfalls grob in mehrere Kategorien einteilen, und darunter
wird analog die barocke Kontur-Kursiv die erste sein, der wir häufig in den graphischen
Blättern der Kupferstecher und in den Musterbüchern der Kalligraphen begegnen.
Auch bei ihr sind gewöhnlich nur die starken Züge des Schriftbildes durch Konturen
hervorgehoben. Noch häufiger kommt in diesen Blättern jedoch die barocke schattierte
Kontur-Kursiv vor. Bei ihr soll durch Verstärkung einer der beiden Doppellinien des
Umrisses der Eindruck einer plastischen Modellierung hervorgerufen werden. Solche
Schriften kamen auch im Buchdruck vor, und eine besonders gelungene typographische
Kursiv dieser Art ist Rosarts Double Capitale Financier, eine verzierte Majuskel zu
seiner Schreibdruckschrift financière coulée, die dieser Schriftschneider 1768 für die
Gießerei Enschedé in Haarlem schuf (Abb. 146). Diese hübsche, auch heute von der
Firma noch lieferbare kursive Majuskel kann uns gleichzeitig als geeignetes Beispiel
der nüchternen ornamentalen Behandlung einer kursiven Zeichnung dienen, bei der
die Grundkonstruktion noch intakt ist.
Mehr in die Augen fallende Veränderungen treten in dieser Konstruktion auf, wenn
ähnlich wie zuvor bei der Antiqua und Italika vorzutäuschen versucht wird, daß sich
das Schriftbild entweder aus üppigen kalligraphischen oder umgekehrt aus völlig
schriftfremden Elementen zusammensetzt. Hinsichtlich der ersten Methode wurde die
kursive Lateinschrift im engeren Sinne niemals Opfer einer so übertriebenen kalligra¬
phischen Dekorationssucht, wie das etwa bei den barocken Majuskelformen des goti¬
schen Typus der Fall war, die wir z. B. in den Alphabeten des deutschen Kalligraphen
P. Franck kennengelernt haben. Dennoch begegnen wir in den kalligraphischen Muster¬
büchern des 18. Jahrhunderts, wie z. B. in der 1719 von dem portugiesischen Schreib¬
meister Manoel de Andrade in Lissabon herausgegebenen Nova escola (Taf. XL,
XLI), häufig einer kursiven Majuskel, deren Grundform durch ein Gewirr von kalli¬
graphischen Rankenornamenten ersetzt und manchmal, wie im Falle Andrades, nicht
ohne außergewöhnlichen graphischen Reiz ist. Wenn diese barocke ornamentierte Kursiv
auch zweifellos als schönes Beispiel für eine Schrift ihrer Art gelten kann, ist ihre Kom¬
position aus abstrakten und gitterartigen Füllungen für die barocke Schriftkunst doch
nicht so typisch, wie die sehr interessante typographische Kursiv Union Pearl, die
schon um das Jahr 1690 von den Londoner Schriftgießern James und Thomas Grover
hergestellt wurde (Abb. 147). Sie steht demnach die älteste englische ornamentale
Druckschrift und sicher auch die älteste ornamentale kursive Druckschrift überhaupt
dar. Ihre Originalmatrizen sind in der Schriftgießerei der Firma Stephenson Blake
& Co. bis heute erhalten, und so kommt diese historisch bedeutsame Schrift zeitweise
auch im modernen enghschen Buchdruck vor. Uns interessiert vor allem ihre Zeich¬
nung, und wir können im Versalienalphabet erneut jenes Prinzip der Ornamentierung
feststellen, das wir bei der viel jüngeren Antiqua- und Italika-Majuskel Fourniers
kennengelernt haben, nämlich die Behandlung der fetten Züge in Form von Baluster¬
säulen mit einer Perle in der optischen Mitte der Majuskelhöhe. Bei dieser frühen
ornamentalen typographischen Schrift ist aber besonders der Umstand von Bedeutung,
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