FRÜHE INSCHRIFTENMAJUSKEL DER RENAISSANCE
florentinischen Kathedrale aus den Jahren 1431 -1438 (Taf. IV), ist tatsächlich ein
hervorragender Beweis für die Tatsache, daß auch ohne direkte Nachahmung der
klassischen scriptura quadrata eine graphisch hervorragende Renaissanceschrift ent¬
stehen konnte und auch entstand, und darüber hinaus sogar in völliger Stilharmonie
mit der Architektur und Skulptur dieses herrlichen und stilreifen Renaissancekunst¬
werkes. Bei näherem Studium der drei schmalen Längsstreifen dieser Inschrift stellen
wir freilich fest, daß sich hier immer noch viele Überreste aus dem Mittelalter finden,
vor allem in den recht zahlreichen, wenn auch graphisch gelungenen und mit zeichne¬
rischem Reiz gelösten Abbreviaturen, die aus der Schriftkunst der gotischen Kodizes
übernommen sind. In der eigentlichen Schriftzeichnung stellen wir dann bei der über¬
wiegenden Mehrzahl der Buchstaben des Alphabets (Abb. 1) das Fehlen der Serifen
fest, nur die Buchstaben C, G und S bilden in dieser Beziehung die übliche Ausnahme.
Andererseits ist hier eine schöne Differenzierung der Proportionen der breiten und
schmalen Buchstaben und insbesondere der starken und schwachen Züge entwickelt,
völlig in Übereinstimmung mit den klassischen Regeln. Graphisch sicher am interes¬
santesten ist sodann die spezifisch bildhauerische Behandlung der frei auslaufenden
schwachen geraden Züge, in denen die 'Serife' des senkrechten Einhiebs konsequent
von einer keilförmigen Verstärkung verdeckt ist. Diese schmalen Keile der schwachen
vertikalen und horizontalen geraden Züge sind zusammen mit den einfachen starken
Schäften der Grundform besonders und vor allem für Lucas Alphabet charakteristisch,
das Bild der Buchstaben A, E, F, L, M, N, T, V und X ist dadurch außergewöhnlich
und harmonisch ausgewogen, und durch all das gewinnt das gesamte Gepräge der
Inschriften bei all seiner zeichnerischen Einfachheit den Eindruck ausgesuchter Ele¬
ganz. Inkonsequent gelöst ist aber bei Lucas Alphabet das Ausmünden der Bögen der
Buchstaben C, G und S in unschlüssige Andeutungen sehr stumpfer Serifen. Die Buch¬
staben C, D, G, О und Q haben zwar kreisförmige klassische Proportionen, aber die
Schattierung der Zeichnung ist bei ihnen nach der vertikalen Schattenachse durch¬
geführt. Sehr kurios mutet der gekrümmte Schaft des G an und hauptsächlich die
launige Zeichnung des Y, der wir bisher nur in Buchhandschriften der Vorrenaissance-
zeit begegnen konnten. Während das sehr ausgedehnte Bäuchlein des P in Lucas
Alphabet ganz gegen die klassische Ordnung geschlossen ist, bleibt das Bäuchlein des
Buchstabens R offen; dieser ist außerdem durch die gewellte Krümmung des gebo¬
genen Füßchens gekennzeichnet. Ebenso unklassisch ist der gewellte Schweif des Q,
den wir aber für dieses Alphabet aus der Inschrift eines anderen Lucaschen Werkes
enthehen haben, nämhch vom Grabstein des Bischofs Benozzo Federighi in der flo¬
rentinischen Kirche S. Francesco di Paolo, die Luca della Robbia aber erst in der
Zeit nach 1450 schuf (Taf. Va). Auf den ersten Blick ist es beinahe unglaublich, daß
die Schrift dieser Inschrift im wesentlichen mit der schattierten Majuskel mit ver¬
borgenen Serifen übereinstimmt, die wir soeben an der Inschrift von Lucas Cantoria
so sehr bewunderten. Und doch unterscheidet sie sich eigentlich davon durch nichts
anderes als die engeren Proportionen und die starke Drängung des Textes in ziemlich
kurzen Zeilen. Durch diesen Eingriff verlor die Schrift jeden Reiz, verlor sie die not¬
wendige graphische Ordnung und wurde vergröbert, was im Vergleich zur Feinheit
des bildhauerischen Ausdrucks dieses Werkes besonders deuthch wird. Dennoch ist
in unserem Alphabet aus der Inschrift von Lucas Sängertribüne die Schrift graphisch
außerordentlich bemerkenswert und stellt ein schönes Beispiel der schattierten Re-
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