DIE BAROCKEN ORNAMENTALSCHRIFTEN
Das vermochten sie um so eher, als ihnen in dieser Richtung viele Vorgänger den Weg
wiesen, zuletzt, wie wir wissen, zum Beispiel Vespasiano Amphiareo in der Mitte des
16. Jahrhunderts. Darum ist auch eine solche barocke ornamentierte Antiqua und Italika
in ihrem eigenthchen Wesen für die barocke Schriftkunst bedeutend typischer als die
verhältnismäßig nüchteren Schriften, die wir bisher angeführt haben. Die Grundform
der barocken Antiqua und Itahka des Übergangstypus konnte man allerdings auf
mannigfache Weise zersetzen, wobei das einfachste Verfahren jenes ist, mit dessen
Hilfe Antiqua-Majuskeln verarbeitet wurden, die sehr häufig und graphisch glücklich
schon vor 1769 in den Drucken der akademischen Druckerei des Jesuitenkollegs im
Prager Klementinum verwendet wurden (Abb. 137a). Die Zersetzung des Schriftbildes
dieser hellen Konturversahen beruht auf einer einfachen Spaltung der starken Schäfte,
auf einer Abtrennung der Parallelen ihrer Konturen durch eine Unterbrechung der
Serifenhorizontalen oder des Querabschlusses solcher Züge, wie er zum Beispiel im
Scheitel des A vorkommt. Es ist interessant, daß diese Methode nur bei geraden, senk¬
rechten oder schrägen starken Strichen angewandt wurde, während die Zeichnung
der runden Züge, wie bei den Bäuchen der Buchstaben B, D, P und R und bei den
Bögen und Schhngen der Buchstaben C, G, O, Q, und S in ihrer reinen Umrißform
geschlossen bheb. Trotzdem hat diese Majuskel auch so einen stark dekorativen und
trotz all ihrer Einfachheit typisch barocken Charakter. Es handelt sich hier eigenthch
schon um eine Form von Spaltung der Serifen, ein Prinzip, das auch in dieser ein¬
fachen Art zusammen mit weiteren Möglichkeiten des Ornamentierens barocker An¬
tiqua-Majuskeln verwirklicht wurde, wovon wir uns bald überzeugen werden. In den
Drucken derselben Prager Druckerei kommt vor 1769 noch eine andere ornamentale
Schrift vor, die ich bisher sonst nirgendwo feststellen konnte und die sich für uns
ebenfalls als Beispiel einer anderen einfachen Art des Ornamentierens der hebten
Antiqua-Majuskel eignet (Abb. 137b). In diesem Fall ging man anders zuwege, obwohl
auch hier nur die starken Züge, einschließlich der runden, ornamental behandelt
werden. Diese Züge sind hier durch eine Zeichnung charakterisiert, mit der vielleicht
die Form der gewundenen Barocksäulen oder die Windungen einer Schnur oder Leine
nachgeahmt werden sollen. Auf ihre Art ist auch diese flache Schrift dekorativ sehr
wirkungsvoll, wenn sich auch die Ornamentierung des Schriftbildes hier durch eine
ziemliche Zurückhaltung auszeichnet.
Wenn in allen bisher angeführten Beispielen die Aufmerksamkeit der Schöpfer orna¬
mentaler Schriften nur auf die starken Züge der Antiqua-Majuskeln gerichtet war, so
bedeutet das nicht, daß die Möglichkeit einer dekorativen Behandlung der schwachen
Züge immer ungenutzt bheb. Das älteste Beispiel einer solchen Schrift, deren Zeich¬
nung auf sehr einfache Weise in all ihren Bestandteilen ornamentiert wurde, sind wohl
zwei Zeilen der verzierten Majuskel auf dem Titelblatt des Theaterstückes La Devi¬
neresse, das C. Blageart im Jahre 1680 in Paris herausgab. Die Ornamentik dieser
Schrift beruht nur darauf, daß ihre Grundzeichnung durch einen dünnen Zickzack¬
strich ohne weiteren dekorativen Eingriff verziert wurde. Es scheint aber, daß dies
ein zu seiner Zeit vereinzelter und nicht nachgeahmter Fall blieb, denn erst im 19.
Jahrhundert begegnen wir ähnlichen Lösungen. Dagegen wurde von typographischen
Schriftkünstlern häufig jener Weg verfolgt, der bereits 1632 durch die Schrift der in
Holz geschnittenen Kopfleiste der Gazette, der ersten französischen periodischen Zeit¬
schrift, gekennzeichnet ist (Abb. 138). Ihr Herausgeber und Drucker Renaudot war
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ORNAMENTALE BAROCKE ANTIQUA-MAJUSKEL
aber nicht selbst der Entdecker dieser schriftkünstlerischen Möghchkeit, in der die
zeitgenössische und die Renaissance-Kalligraphie schon weit fortgeschritten waren.
In der Ornamentierung der Grundzeichnung der Antiqua-Majuskeln dieses Bei¬
spiels vermissen wir aber jenes charakteristische Element, das fast alle folgenden frap-
ABCDEFGH
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jB^JU>JElJr 137- Ornamentierte barocke Antiqua-Majuskel. Prag, vor 176g. 138. Renaudot, 1632. pant barocken und rokokohaften Schriften dieser Art auszeichnet, nämhch die Spal¬ 271
tung und Verzweigung der Serifen nach dem alten Prinzip der Damasus-Inschriften
aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Auch diese Möghchkeit wurde lange vor
den typographischen Schriftkünstlern durch die Stecher der Kupferstichdrucke und
die Kalhgraphen in ihren mittels Kupferstich reproduzierten Veröffentlichungen ge¬
nutzt. Als besonders lehrreiches Beispiel dieser Schriftkunst kann uns wiederum das
Titelblatt des kalligraphischen Musterbuches Les rares Escritures etc. des französi¬
schen Schönschreibers Louis Senault aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
dienen (Taf. XXXV), wo z. B. die sehr saubere, mit einem schmalen Schatten ver¬
sehene Antiqua-Konturmajuskel der zwölften Zeile und die Itahka-Majuskel der zweiten
Zeile in der Grundkonstruktion wohl erhalten sind, aber gespaltene und zu Voluten
gedrehte Serifen haben. Dasselbe Prinzip wird auch bei zwei Antiqua-Majuskeln der
elften Zeile verwirklicht, aber die Schriftkonstruktion ist hier schon durch ein hneares
Ornament ersetzt. In der Italika mit den gespaltenen Serifen der ersten und fünften
Zeile dieses Titelblattes haben wir dann wieder ein anderes Beispiel einer dekorativen