DIE BAROCKEN ORNAMENTALSCHRIFTEN
Von diesem Standpunkt aus können wir anhand von Senaults Titelblatt feststellen,
daß sich unter dem Dekor der einzelnen Ornamentalschriften im wesentlichen Grund¬
formen einerseits aus der Klasse der Antiqua und Itahka, andererseits aus der Klasse
der Schreibschriften verbergen, und damit ist hier auch das Grundsystem der Klassi¬
fikation gegeben. Danach ist die ORNAMENTALE BAROCKE ANTIQUA UND
ITALIKA DES ÜBERGANGSTYPUS in diesem Beispiel, besonders hinsichthch der
Antiqua, weder zahlreich, noch in der Form vertreten, die an erster Stehe erwähnt
werden muß, nämhch als barocke Antiqua- und Italika-Konturschrift mit gleicher Zeich¬
nung, wie sie zuvor in der Renaissance auftrat. Die eigentliche Schriftzeichnung ist
hier nicht einmal dann zerstört, wenn durch Verstärkung einiger Teile der Kontur der
Eindruck eines Schattens erweckt werden soll, wodurch aber schon eine weitere und
viel häufiger vorkommende Kontur-Variante entsteht, die lichte schattierte barocke An¬
tiqua und Italika. Die hchte Schrift dieser Art wurde entweder nur in Umrißlinien der
starken Züge unter Beibehaltung der einfachen Linien der schwachen Züge ausge¬
führt, oder durch das Kontur-Umstechen aUer Bestandteile des Schriftbildes einschlie߬
lich der Serifen. Beide Arten entsprachen allerdings ganz der Technik des Kupfer¬
stiches, und deshalb finden wir sie sehr häufig auf den graphischen Blättern der
Barockkünstler. Als Beispiel für die erste dieser Varianten kann uns ganz hervorragend
eine Druckkopie von Schriften französischer Kupferstecher des 17. Jahrhunderts dienen,
unter denen sich auch eine solche von Pierre Moreau befinden soll, die im Jahre 1913
unter der Bezeichnung Moreau le Jeune von der Pariser Schriftgußfirma Deberny
& Peignot herausgegeben wurde (Abb. 131). Im 17. Jahrhundert kam aber eine der¬
artige Schrift ausschließlich in Kupferstichdrucken vor und stand den Typographen
in Form von Drucklettern nicht zur Verfügung. Die erste typographische Schrift dieser
Art brachte erst 1749 Pierre Simon Fournier heraus, der sie dann 1764 in seinem
Manuale in einer Serie von zahlreichen Schriftgraden sowohl der Antiqua als auch
der Itahka anführt (Abb. 132). In den kleineren Schriftgraden dieser seiner lettres
grises wich Fournier kaum von den älteren Mustern der Kupferstiche ab, aber in den
größeren verstärkte er die Schattenstriche so sehr, daß man hier weder von einer
Konturschrift noch von einer schattierten Schrift sprechen kann. Die geringen Reste
heller Flächen zwischen den parallelen schwachen und fetten Zügen der Kontur
könnten eher als Glanz angesehen und solch eine Schrift also als glänzende bezeichnet
werden. Diese und andere hchte ornamentale Antiqua- und Italikaschriften traten
sehr schneU auf den Titelblättern von Büchern zeitgenössischer französischer Drucker
in Erscheinung, wie sie zum Beispiel Le Breton um das Jahr 1754 und Demonville
um 1775 druckten. Auch die übrigen französischen Schriftgießer ahmten Fournier
in dieser Richtung bald nach, was zum Beispiel das Musterbuch der Firma Perrenot
et fils in Avignon aus dem Jahre 1784 beweist. Im selben Jahre taucht eine sehr schöne
ornamentale Antiqua des Übergangstypus dieser Art auch in England in einem Muster¬
buch auf, das der Schriftgießer William Caslon, bereits der dritte dieses Namens,
herausgab (Abb. 133a). Der Raum zwischen den beiden Konturen wurde noch im
ganzen 18. Jahrhundert weiß gelassen, und erst vor 1808 gab die enghsche Schrift¬
gießerei Fry & Steele eine ornamentale Antiqua des Übergangstypus heraus, die innen
schraffiert war. Dieselbe Firma besaß vor diesem Zeitpunkt auch eine schattierte
Schrift Richard Austins aus dem Jahre 1798, Antiqua-Versalien mit sehr diskretem
Dekor (Abb. 133b), der auf einer bloßen Unterbrechung der schwachen Züge durch
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