DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
ihren Schriften nicht auch die englische Schreibschrift hätte (Abb. 130). Auch heute
noch wird sie zum Satz von kleinen Drucksachen, Visitenkarten, persönlichen An¬
zeigen, Einladungen u. ä. angeboten.
Die Verachtung, die der anglaise und den anderen Schriften des klassizistischen
Typus von den Vertretern der sogenannten Erneuerung der Schrift an der Wende
des 19. Jahrhunderts widerfuhr, wurde von ihrer Rehabilitierung und außergewöhn¬
lichen Beliebtheit bei den modernen Graphikern in den zwanziger Jahren unseres
Jahrhunderts abgelöst. Die anglaise wurde zu dieser Zeit nicht nur zum Satz von
Akzidenzdrucken, sondern auch als Auszeichnungsschrift in Büchern verwendet, und
noch heute begegnen wir zeitweise einer solchen Typographie, obwohl sich die erste
Begeisterung schon lange abgekühlt hat. Ein bleibender Beitrag in dieser Richtung
war aber das Abwägen der historischen Bedeutung und die richtige Wertung einiger,
wenn auch nicht übermäßiger graphischer Qualitäten der englischen Schreibschrift
in ihrer reinen Form, die in der Gegenwart vorläufig auch die letzte historische Form
der Entwicklung der handschriftlichen Lateinschrift bildet.
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KAPITEL IV. DIE BAROCKEN UND KLASSIZISTISCHEN
ORNAMENTALSCHRIFTEN
OBWOHL WIR in der Renaissance bereits eine Reihe schöner Beispiele auf dem
Gebiet der ornamentalen Schriftkunst kennengelernt haben, mußten wir doch fest¬
stellen, daß diese Stilperiode für das Aufblühen des auf sie orientierten Schriftschaffens
nicht die rechten Bedingungen bot. Besonders die Typographie der Renaissance war
in dieser Beziehung mehr als arm; das braucht man aber nicht zu bedauern, da sie
sich durch andere Vorzüge auszeichnet, die diese ihre scheinbaren Nachteile reich¬
lich aufwiegen. Erst die Stilatmosphäre des Barocks ließ trotz der retardierenden
Wellen des Klassizismus auch in der Schriftkunst dekorative Tendenzen von gleicher
Intensität und Reichweite entstehen, wie in der ganzen übrigen zeitgenössischen ma¬
teriellen Kultur. Im Barock und besonders im Rokoko äußerte sich bekanntlich in der
Baukunst, Garten- und Innenarchitektur, Wohnungseinrichtung, Bekleidung, Kera¬
mik und in jedem kleinen Erzeugnis des Kunsthandwerks und alltäglichen Gebrauchs
das zeitgemäße und spontane Bedürfnis, die eigentliche, aus der Funktion hervorge¬
gangene Form des Produktes, die natürliche Grundform des Naturobjekts durch einen
nichtfunktionellen Dekor zu verzieren. Auch in den Titelblättern der Bücher und in
anderen barocken Drucksachen und noch weit mehr in den in Kupfer gestochenen
graphischen Blättern und kalligraphischen Pubhkationen, ebenso wie in den ver¬
schiedensten gemalten oder gestochenen Inschriften - mit Ausnahme der Monumen¬
talschriften -, überall und immer begegnen wir Schriften, bei denen die ausgereifte
zeitgemäße Grundzeichnung mehr oder weniger verdeckt oder durch ornamentale
Behandlung sogar zerstört wurde. Zu einem so ausgeprägten Ausdruck einer radikalen
Barockisierung der Schriftform kam es allerdings nicht gleich zu Beginn des Barocks,
obwohl wir schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einer so rasch wach¬
senden Zahl mannigfach dekorativ behandelter Schriften in Berührung kommen, daß
wir zwecks Erleichterung einer Übersicht noch eher als im Fall der ornamentalen
Renaissanceschriften auf den Grundsatz des chronologischen Verfahrens verzichten
müssen und sie heber nach Unterschiedlichkeit oder Verwandtschaft des Prinzips ihrer
ornamentalen Behandlung zu klassifizieren versuchen.
Die Mannigfaltigkeit der barocken Ornamentalschriften ist wirklich bemerkens¬
wert, und wir übertreiben nicht, wenn wir gerade diesen Umstand gleich am Anfang
besonders betonen. Es genügt zum Beispiel ein Blick auf das Titelblatt des in Kupfer
gestochenen Buches Les rares Escritures Financières et Italiennes-bastardes etc., das
der französische Kalligraph und Stecher L. Senault in der Mitte der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts in Paris herausgab (Taf. XXXV), um uns davon mehr als an¬
schaulich zu überzeugen. Von den insgesamt dreizehn Textzeilen dieses Titelblatts
sind acht in ornamentalen Schriften ausgeführt, und dabei ist die Schriftzeichnung
in jedem Fall ornamental völhg anders gelöst. Wir hätten hier also bereits acht schöne
Beispiele barocker Ornamentalschriften, ihr näheres Studium wollen wir jedoch wegen
ihrer vorgeschrittenen Ornamentierung vorläufig verschieben und mit einfacheren
Schriften beginnen. Zunächst müssen wir sie aber nach ihren Grundformen einteilen.
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