DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
Die Musterbücher aller dieser Kalligraphen legen Zeugnis davon ab, daß sich in
der enghschen kursiven Lateinschrift ein immer unpersönhcherer, formal fest stabili¬
sierter Typus einer mit scharfer Feder geschriebenen Schreibschrift entwickelte, die
zum Ideal der Schreiber der Kontore und zu einer Schrift wurde, die allein der Heilig¬
keit der Hauptbücher des europäischen und amerikanischen Großhandels würdig war.
Die Kalhgraphen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verloren immer mehr den
Kontakt mit der berühmten Handschriftentradition vergangener Jahrhunderte und
schufen eine zarte und blutarme Schrift, die zwar eine gewisse Schnelligkeit ermög¬
lichte, sobald das notwendig war, andererseits aber eine lange Zeit aufreibender Übung
zu ihrer Erlernung und vollständigen Beherrschung erforderte. Auch in der übrigen
europäischen Kalhgraphie verlief die Entwicklung in dieser Richtung, aber das Primat
gebührt zweifellos den englischen Schönschreibern, die sich diese abschließende und
dekadente Form der round hand selbstbewußt und rechtmäßig durch die Bezeichnung
ENGLISH HAND zueigneten. Das Gekünstelte des kalligraphischen Duktus betraf
nicht nur die frei gezirkelten und mit Spiralen versehenen Majuskeln, sondern auch
das stark geneigte kleine Alphabet mit den haardünnen Verbindungszügen und den
noch stärker verlängerten Ober- und Unterlängen (Abb. 130). Ihre Form stabilisierte
sich dann so, daß mit Ausnahme der Schäfte der Buchstaben d und t und der Unter¬
längen der Buchstaben f, p und q, die einfach abgeschnitten bheben, alle anderen
mit tief angesetzten Schlingen versehen wurden. Die neueingeführte Stahlfeder er¬
möglichte eine Verengung der Haarstriche auf ein Minimum und heß immer noch
eine ziemhche Betonung der starken Züge zu. Aber die Erhöhung des Kontrastes der
Schriftzeichnung, durch den diese Schrift zu einem handschriftlichen Pendant der
zeitgenössischen Druckschrift des klassizistischen Typus wird, geht mehr auf Kosten
der Haarstriche, so daß die English hand an einer charakteristischen blutarmen Blässe
leidet. Die englische klassizistische Kursiv verbreitete sich am Ende des 18. Jahrhun¬
derts mit der gleichen Schnelligkeit über ganz Europa wie die französische klassizistische
Antiqua und Italika, so daß sie im 19. Jahrhundert zur universalen europäischen
Kursiv wurde und es im wesentlichen trotz aller Reformbestrebungen auch heute noch
ist. Ihre englische Herkunft bestätigt auch die französische Bezeichnung lettre anglaise,
oder die Bezeichnung englische Kurrentschrift, wie sie in Deutschland genannt wurde.
Durch ihre Zeichnung wurde aber auch die der deutschen Kurrent und schheßhch
die des russischen Alphabets beeinflußt und dem herrschenden Stil des Klassizismus
angeglichen. In ihren kontinentalen Versionen wurde die englische klassizistische
Schreibschrift zu einem Extrem, zu dem sich selbst die enghschen Schönschreiber
nicht vorwagten. Wir finden bei ihnen wohl niemals jenen schulmeisterlich geistlosen,
doktrinär stabihsierten und mechanischen Duktus, der den Schrecken der Schulkinder
in Deutschland und im übrigen Mitteleuropa darstellte.
Die rasche Verbreitung der englischen klassizistischen Kursiv wurde auch von den
Schriftgießern gefördert, die mit den Schreibdruckschriften der Nachfrage der Drucker
entgegenkamen; diese sahen sich vor neue Aufgaben des Satzes gestellt, die im Voka¬
bular unserer Druckereien als Akzidenzdrucke bezeichnet wurden. Die ältesten Bei¬
spiele für die Verwendung von Latein-Schreibdruckschriften vom Typus der Itahan
hand sind zwar im enghschen Buchdruck bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahr¬
hunderts festzustellen, aber ihre Herkunft wurde nicht erforscht, und es scheint, daß
es sich hier um importierte Schriften handelt. Die erste, verbürgt englische Schreib-
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ENGLISCH HAND
druckschrift dieser Art ist wohl die Cursorial, die in einigen Graden um 1700 von den
Schriftgießern James und Thomas Grover herausgegeben wurde. Es handelt sich wie¬
der um eine Druckreplik der Itahan hand, aber um einen nicht sehr gelungenen
Schnitt nach einem offenbar minderwertigen handschriftlichen Muster, eine Rephk,
die für den Druck der zu dieser Zeit in England so beliebten Imitationen handschrift¬
licher Zeitungen bestimmt war. Die Cursorial, obwohl für den Druck von Formularen
besonders empfohlen, fand kein größeres Echo. Nach der Liquidation der Firma
Grover Foundry wurde sie im Versteigerungskatalog unter der Bezeichnung Scriptorial
angeboten und ging dann durch die Hände einiger Besitzer, bevor sie in die Gießerei
Stephenson Blake & Co. in Sheffield geriet, wo sich ihre Stempel und Matrizen noch
heute befinden.
Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen auf dem Markt des engh¬
schen Schriftgusses weitere Schreibdruckschriften, diesmal als Rephken der round
hand. Als erster brachte diese Neuheit im Jahre 1774 Thomas Cottrell heraus, ein
Schüler Casions, der 1757 eine eigene Schriftgießerei gründete. Die übrigen enghschen
Schriftgießer folgten Cottrell sogleich, und 1785 brachte auch die Gießerei Casions
eine Schreibschrift von ähnlichem Schnitt. Cottrell sicherte sich jedoch das Primat
der technischen Vollendung, indem er die Illusion der Flüssigkeit einer tatsächlichen
Handschrift durch exaktes Anpassen der haardünnen Verbindungszüge der benach¬
barten Lettern erreichte. Dieses Ergebnis technischen Scharfsinns wurde auch von
französischen Schriftgießern kopiert, die in ihren Musterbüchern die Schriften dieser
Art mit dem Namen ANGLAISE bezeichneten. Die Einführung solcher fremder
Schriften war sicher ein großes Ereignis im bislang führenden und selbstzufriedenen
französischen typographischen Schriftschaffen. Dieses Ereignis war jedoch schon so¬
wohl von den französischen Kalligraphen, die inzwischen die Schrift anglaise coulée
in ihr Repertoire eingereiht hatten, als auch durch die Druckschriften des Typus
English hand vorbereitet, wie sie zum Beispiel J. G. Gillé fils und der Sohn des Autors
des berühmten Manuel Simon Pierre Fournier le Jeune herausgaben; der letztere
schnitt eine Schrift dieser Art im Jahre 1781 für Benjamin Franklin, vielleicht nach
der eigenhändigen Handschrift des Bestellers. Die klassizistische Hochform der Schreib¬
druckschrift anglaise schuf aber erst Firmin Didot, der den Kontrast ihrer Zeichnung
in Übereinstimmung mit seiner übrigen eigenen typographischen Schriftproduktion
vergrößerte. Seine anglaise, schon in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in
einer großen Kollektion verschiedener Schriftgrade zugänglich, wurde zum allgemein
anerkannten Prototyp der Vollendung einer Schreibdruckschrift, die in keiner auf
ihren Ruf bedachten europäischen Druckerei fehlen durfte, und auch die Imprimerie
Impériale konnte die Ergänzung ihres Fundus durch ihren Ankauf nicht umgehen.
Natürlich hatte auch Giovanni Battista Bodoni eine ganze Serie von Druckimitationen
historischer und moderner Schreibschriften, größtenteils jedoch, wie heute angenom¬
men wird, inspiriert durch die Produktion der französischen Schriftgießer von Four¬
nier bis Firmin Didot. Nicht einmal die Bezeichnung der Schreibdruckschriften Bo-
donis ist ganz zuverlässig, denn er führt zum Beispiel unter dem Namen Inglese seine
Imitation der französischen Kursivschrift ronde an. Ebenso produzierten die deutschen
Schriftgießer noch im 18. Jahrhundert, und im 19. Jahrhundert auch noch die Schrift¬
gießer des übrigen Europa und Amerika fleißig Schriften des Typus anglaise und lie¬
ferten sie den Druckern in alle Welt, so daß sich kaum eine Druckerei findet, die unter
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