DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
Replik, die im Jahre 1768 Jacques F. Rosart im Musterbuch seiner nach der Tren¬
nung von der holländischen Firma Enschedé gegründeten Brüsseler Schriftgießerei
anführt. In heutiger Sicht scheint der beigefügte Nachweis der Priorität des Schnittes
seiner caractère de finance bzw. caractère coulée vor der Replik des gleichen Proto¬
typs, die J. M. Fleischmann in der Schriftgießerei Enschedé im Jahre 1756 herausgab,
allerdings etwas kleinlich, denn beide folgten in dieser Hinsicht dem Beispiel P. S.
Fourniers. Die bâtarde italienne und die bâtarde coulée wurden nach Fournier auch
in den Musterbüchern weiterer französischer Schriftgießer angeboten, wie z. B. dem
von Louis Luce im Jahre 1771 und von J. Gillé im Jahre 1778, und auch die Impri¬
merie Royale ergänzte das Ensemble der Schreibdruckschriften Pierre Moreaus um
weitere Repliken, die Mole u. a. für sie schnitten.
Inzwischen fuhren die Kalligraphen in ganz Europa mit dem Herausgeben ihrer
Musterbücher fort, doch wurden überall, mit Ausnahme Englands, bis zum Überdruß
die virtuos vorgeführten Formen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts wiederholt. Auch
die äußere Form der graphischen Gestaltung der kalligraphischen Sammelwerke un¬
terschied sich nicht von dem Stil, den die Schriftmeister Materot, Van den Velde u. a.
am Anfang des 17. Jahrhunderts einführten. Die eigentlichen Schriftproben waren
von sehr anspruchsvollen, unverhältnismäßig mehr Platz und Aufmerksamkeit be¬
anspruchenden kalligraphischen Spiralen und Schlingen umgeben, nach deren Kühn¬
heit und Reichhaltigkeit augenscheinlich die Meisterschaft beurteilt wurde. Neben
den französischen Sammlungen, die am weitesten verbreitet waren, besonders in
Nordwest- und Mitteleuropa, standen immer die holländischen Schreibbücher, deren
Abhängigkeit von der Produktion in Frankreich mit der Zeit ständig stieg, was übri¬
gens auch die französische Herkunft einiger niederländischer Kalligraphen beweist.
Denken wir nur flüchtig an die am häufigsten zitierten Schreibhandbücher, die zum
Beispiel Maria Strick in Delfi 1607 herausgab, David Roelands (A Magazin Oft
Pac-huys der loffelycker Pen-Const etc., Vhssingen 1616), Charpentier in Haarlem
1620, Verscheyden geschriften geschreven ende int'Koper gesneden door Jean de la
Chambre, ebendort im Jahre 1638, und Ambrosius Perlingh (Exemplaar-Boek, Am¬
sterdam 1679). Auch deutsche Schönschreiber, die sich anfangs nur außer der Reihe
mit der lateinischen Kursivschrift beschäftigten, widmeten ihren Varianten vom 17.
Jahrhundert an viel mehr Platz. Allerdings war ihre 'lateinische Kursive' ein bloßer
Widerhall der französischen und niederländischen Muster, und man kann von ihnen
auch gar keinen Beitrag auf einem Gebiet erwarten, das ihnen notwendigerweise
fernlag, wie auch aus den Sammelwerken offenbar wird, die zum Beispiel Arnold
Möller 1645 in Lübeck, Johann Hochreutiner 1658 in St. Gallen, Adolph Zunner
1709 in Nürnberg, Johann Jacob Brunner 1766 in Basel und Johann Braun 1774 in
Mühlhausen herausgaben.
Außergewöhnliche Aufmerksamkeit verdient die Geschichte der Schreibkunst in
England, denn gerade dorthin verlagerte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts der
Brennpunkt der Entwicklung der handschriftlichen Lateinschrift, die dort eine weitere,
bisher letzte Entwicklungsform erreichte. Die italienische Renaissance-Kursiv stieß
bekanntlich auch in England zunächst auf den Widerstand der zähen Tradition der
heimischen Kursiven des gotischen Typus, die noch lange überwogen, nachdem die
Antiqua und Itahka schon allgemein als englische Buchschriften übernommen waren.
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ITALIAN HAND
Nichtsdestoweniger konnte sie schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts ihre Gleich¬
berechtigung behaupten, und in den englischen kalligraphischen Musterbüchern er¬
scheint sie seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gewöhnlich in verschiedenen
Versionen italienischer, niederländischer und vor allem französischer Muster. In den
englischen Schulen und Schreibstuben blieb aber nicht nur im 16., sondern auch im
ganzen 17. Jahrhundert die gotische secretary hand gleichermaßen beliebt und ge¬
läufig, und es war wahrscheinlich der Kalligraph Martin Billingsley, der am Anfang
des Barocks in dem 1618 erschienenen Handbuch Pen's Excellency or Secretary's
Delight als erster nachdrücklich die neue Schrift propagierte. Im Begleittext stellt
Billingsley hier auch fest, daß die ITALIAN HAND, wie man die englische Version
der italienischen Kursiv nannte, zu dieser Zeit sehr geläufig wurde, da sie angeblich
wirklich 'a most excellent and curious hand and to be written with singular command
of hand' sei. Hinsichtlich der Verbreitung dieser kursiven Lateinschrift, deren Zeich¬
nung eine nahe Variante der französischen bâtarde italienne ist, hat Billingsley sicht¬
lich etwas übertrieben, denn das ganze restliche 17. Jahrhundert hindurch hat sich
der Entwicklungsstand nicht sehr geändert, trotz der ungewöhnlich zahlreichen Reihe
damals herausgegebener und die neue Kursiv propagierender Musterbücher und Lehr¬
bücher der Schreibkunst, unter denen man nur die am häufigsten zitierten Werke
anführen kann, die zum Beispiel Richard Gething 1645, John Davies of Hereford
1648, Edward Cocker im Jahre 1660, Richard Daniel (Сору-Book or A Compendium
of the most Usual Hands etc., London 1664) und Peter Gery 1670 publizierten. Be¬
sondere Erwähnung verdienen Charles Snell für die Sammlung The Pen-Man's Trea¬
sury Open'd von 1693, John Seddon und sein Penman's Paradise aus dem Jahre 1695
und auch John Ayres mit seinem Lehrbuch A Tutor to Penmanship von 1698
(Abb. 128). In all diesen Sammelwerken wird eine unleugbare Abhängigkeit nicht nur
von den französischen, sondern - besonders hinsichtlich der äußeren Gestaltung -
hauptsächlich von den niederländischen Kalligraphen sichtbar, an erster Stelle von
van den Velde, Boissens und Perlingh, eine Abhängigkeit, die nicht nur durch das
Übergewicht der holländischen Schriftkunst zu erklären ist, sondern vor allem durch
die Seemacht Holland, die einen großen Teil des englischen Handels mit dem Kon¬
tinent beherrschte. Erst nach dem Jahre 1658, nachdem Oliver Cromwell das hol¬
ländische Primat im Seehandel gebrochen hatte, blühten der englische Schiffbau und
die Seefahrt auf, und die Zahl der Schiffahrtskontore wuchs rasch an. Diese Gelegen¬
heit nutzte auch Charles Snell und reihte in seine Sammlung eine beachtliche Zahl
Beispiele von Seefahrts- und Handelsdokumenten ein.
In einer weiteren Sammlung, The Art of Writing in Theory and Practice aus dem
Jahre 1712, führt Charles Snell neben unmittelbaren Kopien nach Materot und Bar-
bedor einige Beispiele typischer englischer Geschäftsvarianten der Schreibschrift
ROUND HAND an, die auf Kosten der älteren Form Itahan hand rasch an Boden
gewann. Den formalen Unterschied beider Modifikationen, wie er in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts sichtbar wird, illustriert am besten der Vergleich ihrer Alpha¬
bete, die zum Beispiel ein weiterer berühmter, schon früher zitierter englischer Kalli¬
graph und Stecher, George Bickham, in seinem Sammelwerk ausgewählter Proben
der Meisterschaft der besten zeitgenössischen Schönschreiber reproduziert, nämlich
in The Universal Penman, dessen Proben er eigenhändig stach und in London 1743
herausgab. Nach Bickham ist also die Itahan hand des 18. Jahrhunderts eher eine
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