BÂTARDE COULÉE
älterer und vielleicht auch besserer Schriften vergangener Jahrhunderte hervor. Stanley
Morison (On script types, Fleuron IV, London 1925) führt zum Beispiel den auf der
Festsitzung der Académie de l'Ecriture im Jahre 1779 von ihrem Sekretär Harger
vorgetragenen Protest an. Zur Illustration der damaligen Auffassung über den Ent¬
wicklungsverlauf der Kursiv-Lateinschrift in Frankreich halte ich es für nützlich, aus
dieser Darlegung wörtlich zu zitieren : 'Les soins que les Maitres Écrivains se donnè¬
rent, aidés de l'autorité de l'arrêt du Parlement de 1633, et la protection que le grand
Ministre (Colbert) qui illustra le siècle de Louis XIV accordoit aux belles mains,
rendrent les bonnes écritures plus communes; la ronde et la bâtarde devinrent les
écritures usuelles. Le besoin d'accélérer les expéditions introduisit dans le siècle la
coulée qui derive de l'une et de l'autre. On se servit aujourd'hui de ces trois écritures
mais la coulée, plus expéditive, l'a beaucoup emporté sur les autres et cette préférence
qu'elle a obtenue a fait dégénérer l'écriture en France. Tout le monde veut écrire vite,
et personne ne veut commencer par assujetir à se régler la main par un long usage de
la ronde et de la bâtarde...' (Die von den Schreibmeistern aufgewandte Sorgfalt,
unterstützt durch die Autorität des Parlamentsbeschlusses vom Jahre 1633, und der
Schutz, den der große Minister (Colbert), der das Jahrhundert Ludwig XIV. berühmt
gemacht hat, den Schreibkünstlern gewährte, trug stark zur Verbreitung der schönen
Schriften bei; die ronde und die bâtarde wurden zu Schriften des täglichen Gebrau¬
ches. Das Bedürfnis nach Erhöhung der Schreibgeschwindigkeit bewirkte im Laufe des
Jahrhunderts die Einführung der coulée, die aus beiden abgeleitet wurde. Heute
werden alle drei Schriften verwendet, aber die coulée, die gebräuchlichste, gewann
über die beiden anderen ein großes Übergewicht, und dieser Vorrang bewirkte den
Verfall der Schrift in Frankreich. Jeder will schnell schreiben, und niemand will damit
beginnen, daß er seine Hand durch lange Verwendung der Schriften ronde und bâ¬
tarde der Übung unterwirft...) Und Harger fügt schließlich hinzu, daß 'la bâtarde
est la plus belle de toutes les écritures, la lecture est facile, et elle n'a d'autre incon¬
venient que celui de la lenteur' (die bâtarde ist die schönste aller Schriften, sie ist
leicht leserlich und hat keinen anderen Nachteil als den, daß sie langsam ist). Aber
dieser kleine Mangel war entscheidend und hatte zur Folge, daß die bâtarde italienne
sich künftig nur künstlich am Leben hielt, während zur französischen, wirklich allge¬
meinen Kursiv die bâtarde coulée wurde, die immer häufiger als bâtarde expédiée oder
expédiée coulée oder nur expédiée bezeichnet wird, wovon das Musterbuch Les écritures
française et anglaise zeugt, das der Kalligraph Bourgoin 1810 in Paris herausgab. In
seinen Proben (Abb. 127) bekam diese Schrift jedoch schon eine neue Gestalt, die
einerseits dem allgemeinen schriftkünstlerischen Klassizismus dieser Spätperiode, an¬
dererseits dem Einfluß jener kursiven Formen verpflichtet war, zu denen die gerad¬
linige Entwicklung der Nachrenaissance-Kursiv in England geführt hatte.
Die bâtarde coulée hatte zwar im Bereich der Typographie mehr Glück als die
bâtarde italienne, nichtsdestoweniger zeigten die Drucker anfangs kein voreiliges In¬
teresse. Die Schreibdruckschriften fanden bis zum 17. Jahrhundert übrigens keinen
größeren Widerhall, denn die Möglichkeiten ihrer Anwendung waren recht klein, und
erst im 18. erscheinen sie in größerer Zahl in den Musterbüchern der Schriftgießer.
Eine schöne Druckreplik der bâtarde coulée, die irgendwann nach 1742 geschnitten
wurde, führt Pierre Simon Fournier le Jeune im Jahre 1749 in seinem Musterbuch an
und bezeichnet sie als caractères de finance dits bâtarde coulée. Weniger glücklich war die
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