DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
tischen Form dies verhinderte. Die bâtarde coulée und italienne identifizierten sich
in der Zeichnung allmählich immer stärker, so daß der Unterschied zwischen beiden
Schriften minimal wurde und dann im wesentlichen auf eine Verschiedenheit in der
Form der Schäfte beschränkt blieb. Zum Ende des 17. Jahrhunderts konsolidierte sich
dann in der Praxis der Schreibstuben der französischen Kanzleien die Verwendung
der bâtarde coulée für Schriftstücke, die eine größere Schnelligkeit der Expedition
erforderten, während für außergewöhnliche Begebenheiten die bereits stark italiani-
sierte ronde reserviert war.
Die Vereinfachung des französischen Schreibformenrepertoires machte sich in der
Praxis bestimmter bemerkbar als in den kalligraphischen, stets eine große Zahl von
historischen und zeitgenössischen kursiven Varianten enthaltenden Sammlungen, die
zum Beispiel Petré, Senault, Lesgret, De Chaste und viele andere noch bis zum Ende
des 17. Jahrhunderts herausgaben. In diesen Sammelwerken herrschte außerdem eine
ständige Verwirrung in der Bezeichnung der hochbarocken Kursivschriften von der
Art der bâtarde coulée. So etwa überschreibt Senault in seinem Sammelwerk von
1670 seine Probe mit der Bezeichnung lettres bastardes courantes (Abb. 125). Der Gefahr
der Konfusion, die sich aus dieser terminologischen Unbeständigkeit ergibt, trachtet
in seiner Sammlung von 1774 der Kalligraph Johann Braun vorzubeugen, indem er
die Probe der gleichen Schrift sorgsam mit der umfangreichen Bezeichnung écriture
coulée, courante ou d'expédition versieht, also mit allen Epitheta, die zu seiner Zeit für
diese Schrift geläufig waren. Aber unter all diesen und anderen Bezeichnungen er¬
scheint sie als Kursiv von gleicher Zeichnung im großen und kleinen Alphabet (Abb.
126). Im Majuskelalphabet ist dann immer noch die unmittelbare Entwicklung aus
der italienischen Renaissance-Kanzleikursiv zu erkennen, die sich weniger deutlich
auch in der überwiegenden Mehrzahl der Buchstaben des kleinen Alphabets bemerk¬
bar macht. Hierbei ist dann neben den bereits genannten Resten der heimischen go¬
tischen Tradition als besonderes Merkmal die Verdoppelung der Schäfte bei den
Buchstaben p und q zu beachten. Etwa in dieser Gestalt hielt sich die bâtarde coulée
über das ganze 18. Jahrhundert sowohl in den üblichen französischen Schriftstücken
als auch in den kalligraphischen Musterbüchern, unter denen vor allem die 1763 in
der Diderotschen Enzyklopädie in Paris herausgegebene Sammlung L'Art d'Ecrire
réduit a des démonstrations vraies et faciles, avec des Explications claires, pour Le
Dictionnaire des Arts, par Paillasson, Expert Ecrivain Juré, Beachtung verdient. Pail¬
lasson lehrt hier besonders anschaulich und methodisch das Schreiben der zu dieser
Zeit geläufigen französischen Schreibschriften ronde, bâtarde und coulée. Wir sehen
also, daß die Terminologie der Schreiber schon außergewöhnlich vereinfacht wurde,
wobei die Bezeichnung bâtarde nur der selten verwendeten reinen Form der bâtarde
italienne und die einfache Bezeichnung coulée oder manchmal auch financière der
allgemein überwiegenden bâtarde coulée vorbehalten blieb (Taf. XXXIII, XXXIV).
Diese drei Hauptkategorien der Schrift unterteilt Paillassan in je fünf weitere Unter¬
gruppen; danach kann die coulée zum Beispiel 1. grosse, 2. moyenne, 3. posée oder
ordinaire, 4. financière mit der Variante coulée tondue und schließlich 5. coulée mi¬
nute sein. Wie hieraus zu ersehen, berücksichtigt diese weitere Klassifizierung Paillas¬
sons hauptsächlich die Größe des Schriftbildes und weniger die Abweichungen der
eigentlichen Schriftzeichnung und ist schon deshalb schlechthin überflüssig.
Der Sieg der bâtarde coulée rief im 18. Jahrhundert Klagen zahlreicher Liebhaber
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126. Bâtarde coulée iy. und 18. Jahrhundert.
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