DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
traf. Der Hauptgrund für Desmoulins schöpferisches Selbstbewußtsein war sicher die
dekorative Komposition der einzelnen Blätter der Sammlung, deren freie Fläche er
mit figürlichen, in einem Zug geschriebenen 'Zeichnungen' bedeckte. Und darin
äußert sich hier erstmalig in vollem Maß die abwegige Entwicklungsrichtung der
europäischen Schreibschriftkunst, die die Schönschreiber in eine Situation bringt, in
der der Begriff Kalhgraphie zu einer schimpflichen Bezeichnung für eine aus Selbst¬
zweck betriebene, dem Leben und der eigenen Sendung entfremdete Spielerei von
Schreibartisten wurde. Den größten Ruhm erlangte in dieser Beziehung der enghsche
Schönschreiber Cocker, der aber sonst in seinen Sammlungen Magnum in Parvo und
Guide to Penmanship aus dem Jahre 1673 sehr typische und zeichnerisch einfache
Alphabete von Schriften des Typus lettre chancelleresque pleine anführt.
Lange vorher jedoch bringen Desmoulins, noch früher aber Materot und van den
Velde in ihren Sammlungen Proben von Schriftstücken, die die weit fortgeschrittenere
Entwicklung der itahenischen Kursiv in Frankreich und im übrigen Europa schon vor
der Mitte des 17. Jahrhunderts illustrieren. Wie sich die cancellaresca moderna oder
lettre chancelleresque pleine zu dieser Zeit bereits wandelte, ist in den Beispielen am
anschaulichsten, die ein anderer zeitgenössischer und nicht weniger berühmter fran¬
zösischer Kalligraph namens Louis Barbedor in seinen Sammlungen Les Escritures
financière et itahenne-bastarde dans leur naturel aus der Zeit um 1647 und der 1659
in Paris herausgegebenen L'Escriture Itahenne bastarde diversifiée pour toutes les Ex¬
peditions que s'en peuvent escrire etc. anführt. In der zweiten Phase dieser Wandlung
der itahenischen Kanzleischrift in der französischen Kalhgraphie sind die langen
Schäfte mit einer Schlinge in einem Zug geschrieben, wobei der Schnittpunkt der
Schlinge und des Schaftes auf der Ebene der mittleren Minuskelhöhe liegt. Weiterhin
waren, was besonders wichtig ist, diese geschlungenen Züge oben nicht mehr nach
rechts geneigt, sondern sie hielten in ihrer ganzen Länge genau die Richtung der
gemeinsamen Achse der kursiven Neigung ein, wie dies auch heute noch der Fall ist.
Charakteristisch für diese Übergangsform ist jedoch, daß die oberen Schlingen zu¬
sätzlich zu der traditionellen Keulenform ausgefüllt wurden, während die unteren
mit Ausnahme einer Verstärkung des unteren Teils ihres Bogens unausgefüllt blieben
(Abb. 119). Es genügte also nur ganz wenig, man brauchte sich nicht mehr mit dem
zwar effektvollen, aber völhg überflüssigen zusätzlichen Ausfüllen der Schlingen auf¬
zuhalten, damit sich diese rein kalligraphische Schriftform schlagartig in die nützliche
Gebrauchsschrift verwandelte, als die sie uns heute dient. Und zu dieser weiteren
Modifikation der itahenischen cancellaresca moderna kam es in der französischen Kal¬
ligraphie tatsächlich sehr bald, wie aus Barbedors Sammelwerk hervorgeht. Anzeichen
dieser Veränderung kann man lange vor Barbedor feststehen. Der Versuch dazu wird
schon aus jener Schreibschrift deuthch, die ohne nähere Kennzeichnung zum Beispiel
De Beaugrand in seiner Sammlung von 1601 anführt, und andere schon sehr ausge¬
reifte Varianten bringen auch die niederländischen Kalligraphen am Anfang des 17.
Jahrhunderts. Für diese letzte Modifikation der Kursiv lettre chancelleresque pleine
konsolidierte sich in der uneinheithchen Terminologie der französischen kalligraphi¬
schen Literatur des Barocks - soweit wir aus der bescheidenen Zahl der zugänghchen
Originalquellen schheßen können - wahrscheinlich keine völlig entsprechende Be¬
zeichnung; sie ist jedoch schon eine Kursiv der neuen Ordnung, aus der die ursprüng¬
liche cancellaresca romana völhg verschwand. Sie stellt aber auch die Schriftform
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