DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
lung Jans van den Velde erleichtert uns heute nicht wenig den Überblick über den
Stand der Latein-Schreibschrift am Anfang des 17. Jahrhunderts.
Grundform auch der westeuropäischen Kalligraphie am Ausgang des 16. Jahrhun¬
derts war zweifellos die italienische cancellaresca moderna, deren besonders reife Va¬
riante zum Beispiel schon der französische Kalligraph Jehan de Beau-Chesne in seiner
Sammlung Trésor d'Ecriture aus dem Jahre 1580 vorführt (Taf. XXX). Eine Kursiv
von gleichem Duktus präsentieren uns auch Beauheu (Exemplaires etc., Montpellier
1599), Beaugrand (Poecilographie, Paris 1601), Benignus Morellus in Besançon 1606,
und mit besonders gelungenen Proben Jan van den Velde in seinem Spieghel der
Schrijfkonste. Es ist im Grunde immer dieselbe italienische cancellaresca moderna, aber
mit scharfer Feder in einem Zug geschrieben. Van den Velde unterscheidet drei ver¬
schiedene Modifikationen dieser italienischen Kursiv, die er summarisch mit der fran¬
zösischen Bezeichnung lettre italienne cancellaresque belegt (Abb. 117). Eine gemeinsame
und wirklich noch italienische Grundzeichnung hat aber nur das Alphabet ihrer Ma¬
juskel, deren ganzer Unterschied von den Renaissancemustern sich ledighch aus dem
andersgearteten Schreibwerkzeug und der Schreibtechnik ergibt. Abweichungen in
der Zeichnung des kleinen Alphabets, soweit uns zur Beurteilung van den Veldes
'grondt ende fondament der Itahaenscher lettern' dienen kann, mit dem wir in unserer
Probe das Alphabet der Majuskeln ergänzen, sind weitaus gewichtiger. Verhältnis¬
mäßig am wenigsten entfernt sich vom Muster der Renaissance die sehr formale und
anscheinend grundlegende Variante, die van den Velde mit dem Namen lettre posée
bezeichnet, d. h. ernst, seriös, mit Sorgfalt geschrieben. Viel kursiver ist sodann die
zweite kalligraphische Variante, die van den Velde als cancellaresca abgrenzt, und ganz
unformal ist seine dritte Modifikation, die corsiva (Abb. 118). In Wirklichkeit - m
den Proben van den Veldes für die Verwendung dieser Schrift in der Schreibpraxis -
ist aber zwischen den beiden letzten Varianten kein besonders deutlicher Unterschied.
Seine 'cancellaresca' wirkt in Beispielen von Urkunden nicht weniger kursiv und kalli¬
graphisch bravourös als seine 'corsiva', so daß beide Modifikationen in der reichen
begleitenden kalligraphischen Ausstattung (Taf. XXXI) praktisch fast nicht zu unter¬
scheiden sind.
Zu einer nationalen Nachrenaissanceform der üblichen Latein-Kursiv gelangte die
Entwicklung in Frankreich meiner Meinung nach auf zwei Wegen, die sich in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem einheitlichen Strom vereinigten. Der
ersten Entwicklungslinie folgten die Berufskalligraphen, und sie knüpfte unmittelbar
an die italienische Kanzleischrift an, die zweite dagegen ging bereits aus der franzö¬
sischen Renaissance-Schreibschrift bâtarde italienne hervor, die durch die tägliche
Praxis der Schreiber in den amtlichen Kanzleien umgeformt wurde. Die itahemsche
lettera cancellaresca bheb auch im 17. Jahrhundert eine beliebte Form in der Kollek¬
tion der zahlreichen, häufig nur wenig unterschiedenen Skripten der kalligraphischen
Sammelwerke der französischen und niederländischen Schreibmeisterliteratur. In ihrer
Zeichnung spiegelt sich aber schon deutlich die neue, für die barocke Stilepoche so
charakteristische Schreib- und Reproduktionstechnik wider, ob es nun die Grund¬
form, von der sie sich dabei herleitete, die cancellaresca romana oder die cancellaresca
moderna war. Es scheint, daß in dieser Beziehung am meisten die erste dieser Formen
zu leiden hatte, die cancellaresca romana, deren Zeichnung mager und damit sehr
ausdruckslos wurde, obwohl an ihre Renaissanceherkunft immer noch die typische
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