DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
Diese uns schon gut bekannte lettera cancellaresca verlor in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts allmählich jene gesunde renaissancehafte Kernigkeit des Duktus,
die wir mit Vergnügen in so vielen Beispielen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
auskosten konnten. So zum Beispiel finden wir in der Sammlung Essemplare di più
sorti lettere, die der Mailänder Kalligraph Giovanni Francesco Cresci 1560 in Rom
herausgab, oder in seinem folgenden, 1570 in Venedig herausgegebenen Buch II per¬
fetto scrittore, daß sich diese Schrift einen unveränderten Renaissancecharakter nur
im Majuskelalphabet bewahrt hat, daß man aber unter den Minuskeln neue Formen
sowohl in der Grundkonstruktion einiger Buchstaben als auch in der Magerkeit des
Duktus findet, und hauptsächlich in der Form der charakteristisch gebogenen Ober¬
längen, durch die sich die cancellaresca romana auszeichnet (Taf. XXIX). Während
die oberen Teile der Schäfte bei den Buchstaben/, h und langes s sich zu verhältnis¬
mäßig niedrig ausgezirkelten Bögen krümmen, sind die Oberlängen des b, d, und l
zwar noch nach rechts gebogen, aber dieser Abschluß erhält Tropfenform, und gerade
das halte ich für ein wichtiges Merkmal des Stilwandels. Wenn Cresci in dieser Be¬
ziehung noch sehr gemäßigt verfährt, so ist Conretto del Monte Regale in seinen
Proben der gleichen Schrift von 1576, die später in der venezianischen Sammlung
Piobbicis L'Arte compendiata aus dem Jahre 1664 nachgedruckt wurden, schon weit¬
aus kühner (Taf. XXV). Seine Kanzleikursiv zeichnet sich in unserer Probe vor allem
durch zwei hervorragende Eigenschaften aus, einerseits durch die geringere Krüm¬
mung der Oberlängen, andererseits durch die stärkere tropfenförmige Verdickung
ihrer Scheitel, eine Verdickung, die außerdem einen ziemlichen Teil der Gesamtlänge
des Zuges erfaßt. Bedeutend ist an Conrettos Beispielen der italienischen Kursiv in
dieser meines Wissens andernorts durch keine besondere Bezeichnung spezifizierten
Aufmachung auch der Umstand, daß wir hier gleich zwei Bezeichnungen finden, ob¬
wohl der Unterschied zwischen beiden Modifikationen kaum wahrnehmbar ist. Die
erste dieser Bezeichnungen, cancellaresca corsiva tonda, scheint mir nicht besonders tref¬
fend zu sein, denn die zweite cancellaresca Conrettos ist ebenso kursiv und rund. Es
wird darum besser sein, für die Kursivschriften dieses Typus seine zweite Bezeichnung
zu verwenden, CANCELLARESCA MODERNA, die noch mehr die Neuheit der
Form dieser itahenischen kursiven Modifikation aus der Übergangsperiode von der
Renaissance zum Barock ausdrückt, wie sie so häufig in den italienischen kalligraphi¬
schen Musterbüchern aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts erscheint. Zu dieser
Zeit aber werden die holzgeschnittenen Publikationen der erwähnten Art schon von
jenen Mustersammlungen überflügelt, die in Kupferstich reproduziert sind. Deshalb
wird die cancellaresca moderna auch mit ihrem ganzen Duktus immer barocker, wie
etwa in der Bologneser Sammlung Giuliantonio Hercolanis Essemplare utile di tutte
le sorti di lettere cancellaresche aus dem Jahre 1571, deren Schriftproben sich bereits
durch eine ganz und gar unrenaissancehafte kalligraphische Virtuosität auszeichnen.
Wenn in Itahen des 17. Jahrhunderts auch immer noch herrliche kalligraphische
Sammelwerke erscheinen, verliert die italienische Schreibkunst dieser Zeit doch ihre
schöpferische Initiative. Die cancellaresca moderna ist weiterhin die wichtigste Kur¬
sivform der Sammlung II terzo libro delle cancellaresche corsive et altre maniere di
caratteri, die der Sieneser Kalligraph Francesco Periccioh 1619 in Neapel herausgab,
oder des ähnhchen Werkes des römischen Kalligraphen Antonozzi De Caratteri libro
primo aus dem Jahre 1638 (Abb. 116), oder des kalligraphischen Virtuosen Pisani in
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CANCELLARESCA MODERNA
seinen von figürlichen, in einem Zug geschriebenen 'Zeichnungen' begleiteten Bei¬
spielen in der Sammlung Tratteggiato da penne, die 1640 in Genua erschien. Dieser
Errungenschaft begegnen wir aber in Frankreich schon früher, und der eigentliche
barocke Schreibstil ist ebenso, wie heute allgemein angenommen wird, französischen
Ursprungs.
Der Verlagerung des Brennpunktes des europäischen typographischen Schrift-
schaffens vor der Mitte des 16. Jahrhunderts von Italien nach Frankreich folgte mit
einer bestimmten Verzögerung auch die Übergabe der Führung auf dem Gebiet der
üblichen Schreibschriften aus den Händen der italienischen Kalligraphen in die ihrer
französischen Kollegen. Mittlerweile unterwarf sich die italienische Renaissance-Kursiv
in der ausgereiften Form der Italika verhältnismäßig leicht und schnell den französi¬
schen Buchdruck, aber ihre handschriftliche Vorlage - die italienische lettera cancel¬
laresca - gewann, obwohl sie bei den französischen Schreibmeistern eine außerge¬
wöhnlich beliebte Form war, nur allmählich in den französischen Schulen und
Schreibstuben an Boden, denn ihre allgemeinere Verbreitung wurde überraschender¬
weise von der starken Tradition der heimischen Kursiv des gotischen Typus verhin¬
dert. Erst als eigentliche nationale Version bâtarde italienne faßte die Schreibform
des neuen Stiltypus auch in der französischen Schreibpraxis Wurzel, allerdings nur
neben den immer noch lebendigen heimischen gotischen Formen, die einzig und
allein - auch außerhalb Frankreichs - als die wahre französische Schrift angesehen
wurden. In das Barock geht also die französische Kalligraphie mit einem Repertoire
verschiedener, immer noch aktueller Versionen der gotischen lettre françoyse und
ihrer Kanzleivariante lettre financière über, aus denen sich dann im Barock die typisch
französische ronde entwickelte und lange Zeit unerschüttert halten konnte, ebenso
wie einige Modifikationen der italienischen Kanzleischrift, unter denen wiederum die
bâtarde italienne oder ordinaire für die weitere Entwicklung am wichtigsten war.
Der neue Stil der westeuropäischen Schreibkunst breitete sich von Frankreich aus¬
gehend rasch aus und wurde auch von anderen Zentren propagiert. Bekannthch er¬
wuchs Frankreich bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Rivale in der nieder¬
ländischen Kalligraphieschule, die aber, so weit es sich um die kursive Lateinschrift
handelte, wohl vor allem aus französischen Impulsen schöpfte. Die Abhängigkeit der
niederländischen Kultur von Frankreich, einschließhch der typographischen und hand¬
schriftlichen Schriftproduktion, war zu dieser Zeit ebenso eng wie überall im westhchen
Europa. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die niederländische Kalligraphie mit
Ausnahme der heimischen Schriften des gotischen Typus nicht viel zur eigentlichen
Entwicklung der Zeichnung der Latein-Schreibschrift beitrug, wenn sie sich auch an
der Schwelle des 17. Jahrhunderts einer noch nicht dagewesenen Vollkommenheit der
Schreibervirtuosität rühmen kann, die hauptsächlich ein Verdienst der größten und
bekanntesten Persönlichkeit der niederländischen Schönschrift ist, des hier schon mehr¬
fach erwähnten Jan van den Velde; seit 1604 gab dieser eine ganze Reihe größerer und
kleinerer Hand- und Musterbücher heraus, die insgesamt in Kupferstich entweder
in Rotterdam oder Haarlem gedruckt und wiederholt in zahlreichen Neuauflagen
herausgegeben wurden. Von reichstem Umfang und größtem Format war seine hier
bereits erwähnte Sammlung Spieghel der Schrijfkonste, die in Rotterdam 1605 er¬
schien, also drei Jahre früher als die erste, technisch ebenso vollendete französische.
Diese an großartigen Beispielen und ausführlichem Begleittext so reichhaltige Samm-
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