DIE LATEINSCHRIFT DER RENNAISSANCE-INSCHRIFTEN
die Spuren gotischer Tradition verraten. Meist sind das vor allem die verhältnismäßig
engen Proportionen des Schriftbildes und dann auch die gotischen Reminiszenzen in
der Zeichnung einiger Buchstaben, zum Beispiel in der oberen sehr breiten Serife des
A, in der Krümmung des G, in den senkrechten Schäften und im hochgelegenen
Berührungspunkt der inneren Züge des M, in der schwachen Diagonale des N, im
gebogenen Schrägfuß des R, in der Einbiegung eines der Züge beim X und haupt¬
sächlich im uneinheitlichen Abschluß frei auslaufender Züge. Eine beispielhafte ge¬
mischte Majuskel dieses Typus ist etwa die Schrift der Inschrift auf der Grabplatte des
Bischofs Pecci von Donatello aus den Jahren 1426-1427 in der Kathedrale von Siena
(Taf. IIa). Sie ist ein besonders anschauliches Zeichen dafür, daß auch eine sehr ver¬
mischte und in Einzelheiten sehr rückständige Schriftform nicht unbedingt einen be¬
stimmten eigenen graphischen Reiz zu entbehren braucht. Hier ist allerdings eine
ziemliche Ratlosigkeit in der Zeichnung einiger Buchstaben zu erkennen. So etwa
schon beim A, das in der Inschrift insgesamt sechsmal vertreten ist und in jedem Fall
eine andere Form hat, einmal mit einem scharfen und dann wieder mit einem stump¬
fen Scheitel, in der dritten Zeile dann mit einer einseitigen linksgerichteten oberen
Serife. Der Querbalken dieses Buchstabens ist in zwei Fällen überhaupt weggelassen
und in den anderen symptomatisch hoch angesetzt. Das D hat ein oben zusammen¬
gedrücktes Bäuchlein. Das M in der sechsten Zeile hat senkrechte Stämme und kurze
innere Züge, die sich daher oberhalb der Mitte der Majuskelhöhe vereinigen. Cha¬
rakteristisch für die gemischte Gotik-Renaissance-Schrift ist dann die dünne Diagonale
des N und der zur Schlangenlinie gebogene Schrägfuß des R. An frühe gotische In¬
schriften erinnern weiter die besonders zahlreichen Kürzungen und auch die typische,
mit der spiegelverkehrten Zeichnung der Ziffer 3 übereinstimmende Form des Buch¬
stabens E am Anfang der dritten Zeile. Noch größere Uneinheitlichkeit herrscht hier
in der Art der Strichschlüsse, die manchmal gerade abgeschnitten und an anderer
Stelle konkav oder keilförmig verstärkt und schheßlich mit mehr oder weniger schüch¬
ternen Andeutungen von Serifen versehen sind. Das ist also eine ziemliche Reihe von
Mängeln und Verstößen gegen die orthodoxen Regeln der Komposition der klassi¬
schen Inschriften-Majuskel. Und dennoch, trotz alledem hat diese Ubergangsschrift
einen unleugbaren Reiz, den sie vor allem dem klassischen Rhythmus der Proportionen
verdankt, der aus dem Kontrast des sehr engen Buchstabens E und des kreisförmigen
Buchstabens О sichtbar wird.
Frühe gemischte Renaissance-Majuskeln mit ähnlichen gotischen Reminiszenzen
könnten wir aus vielen italienischen Inschriften der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
belegen, zum Beispiel der Inschrift auf der bekannten Kanzel von Filippo Brunelleschi
und Andrea di Lazzaro Cavalcanti, genannt Buggiano, in der Kirche S. Maria No¬
vella in Florenz aus dem Jahre 1443, durch die sehr schmale Schrift der Rehefinschrift
der Verkündigung in der Kirche zu La Verna von Andrea della Robbia aus der Zeit
nach 1455, oder schheßlich auch mit der sehr mageren Schrift auf dem Grab L. Brunis
in der florentinischen Kirche Santa Croce von Bernardo Rossellino, dessen Inschrift
erst aus der Zeit um 1467 stammt. Die Schrift all dieser Inschriften zeichnete sich
durch ein sehr wichtiges gemeinsames Merkmal aus, das wir bisher unbeachtet ließen,
nämlich den absichtlichen und oft stark betonten Strichstärkewechsel. Es gibt aber
auch Inschriften, in denen die gemischte Übergangs-Renaissance-Majuskel ohne sol¬
chen Kontrast ausgeführt ist, also mit uniformem, fast oder ganz unschattiertem Strich.
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FRÜHE INSCHRIFTENMAJUSKEL DER RENAISSANCE
Ein solches Beispiel liefert die Grabinschrift Papst Nikolaus V. im Sankt-Peters-Dom
in Rom aus der Zeit nach 1455 (Taf. Ile). In ihrer Konstruktion stimmt diese Schrift
im wesentlichen mit jener von Donatellos Grabplatte des Bischofs Pecci aus den Jahren
1426-1427 überein; in ihrem Alphabet sind die gleichen Übergangsformen einzelner
Buchstaben vertreten und darüber hinaus der typische, zur Wellenlinie gebogene
zweite Zug des Buchstabens X. Sehr günstig wirkt hier die Einteilung des umfang¬
reichen Textes in zwölf Zeilen mit sehr kleinen Zwischenräumen, die als Beweis für
die wenigstens in dieser Beziehung nicht unterbrochene Tradition der altrömischen
Schriftkunst dienen kann. Die Schrift ist in ihrer Gesamtheit bis auf wenige Ausnahmen
mit einem uniformen Strich gemeißelt, und damit ist sie auch der Grundform der
römischen Monumentalschrift verwandt, die bekanntlich am Anfang der Entwicklung
der Lateinschrift überhaupt stand. Ausnahmen sind hier nur einige leicht und un¬
schlüssig schattierte ovale Züge, sowie die angedeuteten Serifen bei den Buchstaben
С und S, abgesehen freilich von der typischen Übergangsform des A mit der dagegen
deutlichen linksseitigen Serife an seinem Scheitel. Wegen dieser Ausnahmen kann die
Schrift nicht als reine Grundform der Renaissance-Majuskel bezeichnet werden, als Schrift
in blanker Konstruktion mit undifferenziertem Strich ohne Serifen, bzw. als Analogie
der modernen Grotesk. Dennoch aber existierten solche Schriften auch schon in der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und zwar in sehr reiner Form, wie zum Beispiel
auf der Grabplatte der Familie Schiattesi in der Kirche Santa Croce in Florenz aus
der Zeit nach 1423. Später diente diese einfache Grundform hauptsächlich als Schrift
für Texte auf Medaillen. Sie wurde beispielsweise schon vor 1438 von Antonio Pisano,
genannt Pisanello, auf seinen Medaillen verwendet, und nach ihm auch von seinem
Nachfolger Matteo de Pasti auf all seinen Arbeiten dieser Art. Auf der Medaille Lodo-
vicos III. Gonzaga von Antonio Pisano aus der Zeit um 1438 (Taf. IVb) ist die
zeichnerisch sehr vollendete 'sans serif mit sehr gut ausgewogenen Proportionen nach
klassischen Vorbildern und nur geringen Unzulänglichkeiten, wie z. B. in der Zeich¬
nung der Buchstaben A und M eingraviert. Die Schrift dieses Typus war aber keines¬
falls Inschriften auf so kleinen Gegenständen wie Münzen und Medaillen vorbehalten.
Wir begegnen ihr vielmehr auch in größeren Maßstäben auf Bauwerken, worüber
uns zum Beispiel der Tempio Malatestiano in Rimini um 1450 belehren kann, auf
dessen Seitenschiffsbogen Leone Battista Alberti eine Inschrift anbrachte, die in einer
besonders schönen Schrift dieses einfachen Typus ausgeführt wurde (Taf. Illa). Sie
hat schöne, breite Proportionen und eine saubere Zeichnung der einzelnen Buchstaben,
die sich durch einen ganz undifferenzierten Strich auszeichnen, und unterscheidet sich
von der konsequenten 'Grotesk' des Matteo de Pasti nur durch die diskrete Andeutung
von Serifen bei den Buchstaben С und S. Es scheint, daß sich um eine so schöne und so
bewußte Schriftkunst in Rimini gerade Alberti verdient machte, der bekanntlich den
Dingen der Schrift überhaupt eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit widmete.
Inzwischen gewann in Florenz offenbar eine andere Form der Renaissance-Majuskel,
die sich aus einer Gotik-Renaissance-Übergangsschrift schon zu Beginn des zweiten
Viertels des 15. Jahrhunderts entwickelte, größere Beliebtheit. Es ist dies eine serifenlose
Form mit Strichstärkewechsel, oder eine Analogie und Vorgängerin der modernen schat¬
tierten Grotesk-Antiqua. Als Beispiel einer solchen Schrift kann uns etwa bereits die
Inschrift auf dem Grab des Balthasar Cossa, des abgesetzten Gegenpapstes Johannes
XXIII., im Florentiner Baptisterium dienen, die Donatello und Michelozzo in den
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