antiq.ua und italika DES KLASSIZISTISCHEN TYPUS
immer geriet man auch in diesem Fall aus einem Extrem ins andere, und das gesamte
Schriftschaffen der Periode des Klassizismus wurde unterschiedslos mit einem Schlage
verworfen. Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde die klassizistische
Periode in der typographischen Schriftkunst richtig gewertet und in ihren reinsten
Erscheinungsformen rehabilitiert.
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KAPITEL III. DIE BAROCKE UND KLASSIZISTISCHE KURSIV
AUF DIE GESTALT und Entwicklung der Kursivschriften der Nachrenaissancezeit
hatte die Schreibtechnik einen wesentlicheren Einfluß als die eigentliche Veränderung
der allgemeinen-Stilauffassung, die sich auch in den Urkunden und Schönschriftvor¬
lagen, ähnhch wie bei den Buchdruckschriften der Nachrenaissance, nur sekundär
äußerte, mehr in der bloßen äußeren Ausstattung der Schriftstücke als in der eigent¬
lichen Schriftzeichnung. Eine Neuerung in der Schreibtechnik der Kalligraphen des
17. Jahrhunderts, die schon endgültig von der Beteiligung am Buchschaffen ausge¬
schlossen und ausschheßlich auf das Gebiet des Urkundenschreibens angewiesen waren,
beruhte dann vor allem auf dem Austausch der breit zugeschnittenen, aus dem Mittel¬
alter geerbten Renaissancefeder gegen eine weiche, tief gespaltene und an der Spitze
scharf angespitzte Feder, die es nicht nur erlaubte, den Strich eines Zuges auf ein
Minimum abzuschwächen, sondern nach Beheben durch bloße Verstärkung des Druckes
auch bedeutend zu verbreitern, und das überall dort, wo es früher notwendig gewesen
wäre, zu diesem Zweck die Lage der breit zugeschnittenen Feder ganz unnatürlich
zu verändern. Ein weiterer außerordentlich bedeutungsvoller Faktor war auch die
neue Reproduktionstechnik der Vorlagensammlungen der Kalligraphielehrer und
-meister, deren Kunst mit den bescheidenen technischen Möglichkeiten des alten
Holzschnitts nicht leicht zu reproduzieren war. Zur rechten Zeit, wie gerufen, kam
den Kalligraphen in dieser Hinsicht die Erfindung und allgemeine Verbreitung des
Kupferstichs zu Hilfe, dessen beinahe unerschöpfliche technische Möglichkeiten nicht
nur die Reproduktion jedes wie immer abgeschwächten und abgezirkelten Zuges er¬
leichterten, sondern schließlich diese kalligraphische Tendenz auch in bedeutendem
Maße selbst inspirierten und das ständige Streben der ehrgeizigen Schönschreiber her-
forriefen, sich gegenseitig mit Rekordergebnissen in der Richtung einer solchen Orien¬
tierung der Schreibervirtuosität zu übertreffen, jener Virtuosität, der wir hier übrigens
bereits in der fortgeschrittenen Entwicklung der Kursivschriften des gotischen Typus
begegnet sind.
Die chronologische Grenze zwischen der Renaissance und dem Barock ist in der
Geschichte der Schreibkunst ebenso unbestimmt wie in der Geschichte der bildenden
Kunst. So wie sich das frühe Barock schon im Schaffen Michelangelos in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts manifestiert, begegnen wir deutlichen Stilmerkmalen des
Barocks zu dieser Zeit bereits in der italienischen Kalligraphie, wenn auch nur auf
dem Gebiet der ornamentalen Schriften. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts,
als das bildnerische Barock schon sehr weit fortgeschritten war und im Werk eines
Andrea Palladio, Paolo Veronese, Tintoretto, und hauptsächlich El Greco ausreifte,
machte sich auch in den kalligraphischen und nicht nur italienischen Mustersammlun¬
gen der Geist des Barocks sehr deutlich geltend. Größtenteils tritt er in der äußeren
Aufmachung dieser Pubhkationen in Erscheinung, in den barocken ornamentalen
Rahmen um die Muster der einzelnen Schriftarten, aber auch in der Form einiger dieser
Schriften zeigen sich die Einflüsse einer beginnenden Veränderung der Stilauffassung.
Diese Einflüsse wirken sich vor allem auf den Duktus der verschiedenen Kursivschrif¬
ten, d. h. auf die verschiedenen Modifikationen der italienischen Kanzleischrift aus.
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