ANTIQUA UND ITALIKA DES KLASSIZISTISCHEN TYPUS
1812 enthaltene Italika, die zwar abermals von den Antiqua-Serifen befreit, aber noch
mehr mechanisch erstarrt und leblos war. Sie gehörte zu einem Ensemble, das types
millimétriques (Abb. 109) genannt und von Firmin Didot im Laufe seiner Tätigkeit in
der Imprimerie Impériale in der Absicht geschaffen wurde, die etwas veraltete Grand-
jeansche Schrift Romain du Roi zu modernisieren. In Übereinstimmung mit den
charakteristischen Merkmalen dieser älteren Schrift zeichnen sich die types milli¬
métriques im kleinen Alphabet der Antiqua durch beiderseitige horizontale obere
Serifen der langen Schäfte und einen strichartigen Dorn am Schaft des Buchstabens /
aus, aber sonst sind sie - insbesondere in der Zeichnung der Versalien und der Italika -
eine beispielhaft typische Schrift von klassizistischem Schnitt. Gerade diese ebenfalls
schon völlig unkursive Italika wurde zum Prototyp der klassizistischen Itahkaschriften,
die das endgültige Übergewicht in der Typographie des 19. Jahrhunderts gewannen.
Zum Ruhm der Schriften Firmin Didots trug ihre prächtige Verwendung in den
Drucken seines älteren Bruders außergewöhnlich bei. Pierre Didot l'Aîné (1761-1853),
der im Jahre 1789 die Leitung der Familiendruckerei übernahm, erarbeitete sich
tatsächhch eine absolute technische und graphische Vollkommenheit, wie sie vordem
niemals erreicht worden war. Er wurde aber auch durch die allgemeine Anerkennung
ganz Europas belohnt und durch die Funktion des königlichen Druckers Ludwigs
XVI. geehrt. Als schönste Beispiele seiner typographischen Werke gelten die herrliche
Vergil-Ausgabe von 1791 und die berühmten Drucke der Edition du Louvre, die er
1797 herausgab. Er war auch literarisch tätig, wovon das bereits zitierte Épître sur les
progrès de l'imprimerie aus den Jahren 1784 und 1786 Zeugnis ablegt. Zum Druck
all seiner prächtigen Editionen verwendete er ausschheßhch Schriften seines Bruders
Firmin, was er gewöhnhch im Vorwort besonders betonte. Diese Zusammenarbeit
der beiden Brüder währte bis zum Jahre 1809, als Pierre eine eigene Schriftgießerei
begründete. Hier richtete er dann mit Hilfe des Stempelschneiders Vibert, eines Schü¬
lers von Firmin, die Produktion von Schriften eines hochklassizistischen Schnittes ein,
neben denen die Baskervillesche Schrift, deren Stempel er als Sammlerkuriosität zu¬
nächst erworben hatte und die er jetzt vergeblich wieder abzustoßen versuchte, na¬
türlich einen Anflug von Altertümlichkeit aufwies. Die Antiqua- und Itahkaschriften,
die Pierre Didot l'Aîné in seinem prächtigen Musterbuch von 1818 in einer ganzen
Serie veröffentlichte, unterscheiden sich allerdings nur wenig von den ausgereiften
Werken Firmins. In den Antiquaschriften treffen wir das gleiche steil und kontrast¬
reich modellierte Schriftbild mit den haardünnen Serifen an. Diese Schriften sind
vielleicht nur durch den noch größeren Kontrast und insbesondere durch die kuriose
Gestalt des Buchstabens g andersartig und neu. Was von der zweiten Itahka Firmins
gesagt wurde, gilt auch für die Itahkaschriften seines Bruders, und ihre kühle un¬
kursive Zeichnung läßt niemanden im Zweifel darüber, daß es sich hier um nichts
anderes als eine Hilfsschrift handelt, die man wirklich nicht mehr als selbständige
Buchschrift verwenden kann. Im Jahre i860 wurden die Stempel einiger Arten von
Antiqua- und Itahkaschriften Pierre Didots l'Aîné von der holländischen Schriftgu߬
firma Enschedé in Haarlem erworben, die daher auch heute noch die Didotsche
Original-Antiqua und -Italika an moderne Druckereien liefern kann (Abb. 110). Die
Didot ist bis auf den heutigen Tag eine Schrift, die besonders in den größeren Graden
und bei entsprechend sorgfältiger Druckausführung auf weißem Papier mit feiner
Struktur sehr nützlich und auf ihre Art zweifellos schön ist.
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FRANZÖSISCHE KLASSIZISTISCHE ANTIQUA UND ITALIKA
Mit den beiden Schriftgießereien des älteren Zweigs der Dynastie Didot, die gleich¬
zeitig Schriften klassizistischen Schnittes produzierten, war aber die beispiellose Tat¬
kraft dieser Famihe auf dem Gebiet der typographischen Schriftkunst noch nicht er¬
schöpft. Auch ein anderes ihrer Mitglieder, Pierre François Didot le Jeune (i732-1795),
dem jüngeren Zweig der Familie entstammend, gründete 1783 zur eigenen Druckerei
eine Schriftgießerei, wo ihm wohl sein Sohn Henri bei der Schaffung einer Schrift von
etwas gemäßigterem klassizistischem Schnitt half. Seine Antiqua von 1788 ist aber
hinsichtlich des Prinzips der vertikalen Schattenachse, die in der Zeichnung des Buch¬
stabens e nicht eingehalten wird, nicht mehr ganz konsequent.
So überschwemmten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert drei Schrift¬
gießereien und eine ausgedehnte Drucktätigkeit der Familie Didot Europa mit 'mo¬
dernen' Schriften des klassizistischen Typus, die überall mit begeisterter Zustimmung
aufgenommen wurden. Didots klassizistische Antiqua und Italika wurden und blieben
für immer Standardschriften der laufenden Buchproduktion. Obwohl die Bewegung
für die sogenannte Wiedergeburt der Schrift auch in Frankreich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts ihre Vertreter hatte, gelang es diesen im Gegensatz zum übrigen Europa
nicht, die immer lebendige didotsche Tradition zu stören. Doch gab es bereits zur
Zeit des höchsten Ruhmes Firmin Didots vereinzelte Stimmen, die auf die Schatten¬
seiten der klassizistischen Schriften hinwiesen. Updike zum Beispiel führt im sechsten
Band der Revue The Fleuron den Protest an, den im Jahre 1800 ein gewisser Bürger
Sobry in der Société hbre des Sciences, Arts et Lettres de Paris gegen die Didotschen
Schriften erhoben hatte. Sobry machte geltend, daß die Garamondschen Schriften
lesbarer waren, denn Garamond betonte jene Elemente des Schriftbildes, mit denen
sich die einzelnen Lettern voneinander unterschieden, während Didot die Betonung
auf die allen Buchstaben des Alphabets gemeinsamen Elemente legte. Anschauhch ist
zum Beispiel der Vergleich der Buchstaben n-u in den Schriften beider Meister.
Ebenso konservativ war auch der Direktor der Imprimerie Nationale, Anisson, der
den Didotschen Schriften den Eintritt in das ihm anvertraute Institut bis zum Jahre
1794 verwehrte, in dem 'révolutionnairement' seiner Funktion und seinem Leben ein
Ende gemacht wurde (Johnson). Andere rein technische Einwände gegen die Didot¬
schen Schriften führte im Vorwort zu seinen Proben von 1819 der enghsche Schrift¬
schneider und -gießer Richard Austin an, der sich übrigens selbst schon genötigt sah,
dem neuen Zeitgeschmack Zugeständnisse zu machen. Er meint, daß die Schriften
alten Schnittes die Möglichkeit bestimmter Verbesserungen böten, aber daß wir an¬
stelle etwas schwerfälligerer Schriften (Austin dachte dabei an die Schrift William
Casions) nunmehr solche mit bis ins Extrem dünngewordenen Haarstrichen haben,
so daß es praktisch unmöglich sei, selbst bei vorsichtigster Verwendung der Abzieh¬
bürste und bei nicht weniger sorgfältigem Auseinandernehmen der Satzform die Deli¬
katesse ihres Schnittes zu bewahren; die Schriften würden früher abgenutzt, bevor
sie ihre Aufgabe erfüllen könnten. Die Haarstriche wären schon unter das Niveau
der starken Züge der Type gedrückt, so daß der Drucker eine weichere Unterlage und
größeren Druck anwenden müsse, um alle Teile des Schriftbildes auszudrucken. Aber
das tief eingedrückte Papier gäbe dann auch den Abdruck der Seiten der schon ab¬
genutzten Lettern wieder und verhindere die erforderhche Sauberkeit des Druckes.
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