DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
weise in den meisten Fachbüchern angeführt wurden, also mit allen Merkmalen der
hochklassischen scriptura quadrata, mit dem ausgewogenen Rhythmus der Propor¬
tionen in der Grundkonstruktion des quadratischen Schemas, mit der klassischen
Ordnung des Strichstärkewechsels und hauptsächlich mit der typischen Form des
Strichschlusses in der Art zeichnerisch verfeinerter Serifen.
Die Entwicklung von den gotischen Schriften zu den Inschriftenformen der Re¬
naissance war demnach kein plötzlicher Umschwung, keine plötzliche Rückkehr zu
antiken Mustern. Sie verlief vielmehr ganz allmählich und, wie es scheint, in den
verschiedenen Zentren der Renaissance in Italien verschieden. Sie verlief wohl anders
im Brennpunkt des Humanismus, in Florenz, wo nicht auf Schritt und Tritt so viel
Reste antiker Kultur vorhanden waren wie zum Beispiel in Rom, und wo eigenthch
auch die Tradition der altrömischen Schriftkunst über das ganze Mittelalter hinweg
nicht völlig erlosch. Neben Inschriften, die mit gotischen Schriften ausgeführt waren,
entstehen hier auch in der Gotik immer häufiger Inschriften in klassischer Ordnung
und römischen Monumentalmajuskeln, durchgängig aber in ihren späten Verfalls¬
formen, die nicht einmal im 15. Jahrhundert völlig ausgerottet werden konnten und
übrigens auch in der Periode des großartigen Aufblühens der monumentalen Schrift-
kuhst der italienischen Renaissance einen starken Einfluß auf die Entwicklung einiger
Schriftformen nehmen konnten. Der eigenthche Beginn der Entwicklung der Inschrif¬
tenmajuskel der Renaissance muß aber begreiflicherweise in Florenz gesucht werden,
wo schon um 1400 Inschriften in einer Form vorkommen, die man insgesamt der
Renaissance zuordnen kann, wenn sie auch noch die Spuren gotischer Schriftkunst
aufweist. Aus den Majuskeln, die Poggio Bracciolini in seiner Handschrift von 1408
verwendete, kann man ebenfalls schließen, daß dieser berühmte Wegbereiter des Hu¬
manismus mehr von den Majuskeln gemeißelter Inschriften inspiriert wurde als von
jenen handschriftlicher Muster, die allerdings nicht altrömische Handschriften waren,
sondern Abschriften antiker Literatur aus der karohngischen und romanischen Pe¬
riode. In Inschriften der florentinischen Frührenaissance ist aber das direkte Studieren
und Nachahmen antiker Inschriftendenkmäler keineswegs so nachweisbar, vielmehr
scheint es, daß ihre Schöpfer, gleichgültig ob sie spezialisierte Steinmetzen oder viel
wahrscheinlicher selbst Bildhauer waren, in dieser Hinsicht bedeutend selbständiger
und unabhängiger zuwege gingen. Ihr Schriftschaffen trägt weit mehr die Züge eines
Experiments als die eines unmittelbaren Kopierens altertümhcher Vorlagen, es ist ein
Zeugnis des Strebens nach der Loslösung von der eingewurzelten gotischen Tradition,
die zu überwinden natürlich keineswegs leicht war. Allerdings hat zum Beispiel Jacopo
della Quercia auf dem Grabstein des Federigo Trenta in San Frediano in Lucca eine
aus der Zeit nach 1413 stammende Inschrift in einer älteren Form der gotischen
Majuskel gemeißelt, und ähnhchen gotischen Inschriften auf italienischen Werken der
Bildhauerei begegnen wir vereinzelt auch später in der ersten Hälfte des 15. Jahr¬
hunderts, als das allgemeine Streben nach einem neuen Schriftausdruck bereits beacht¬
liche Ergebnisse zeitigte.
Der Übergang von den gotischen Schriften zu den Schriften der Renaissance, also
im wesentlichen die Rückkehr zu vorgotischen Schriften, zeichnete sich verständlicher¬
weise durch sehr ähnliche Übergangsformen aus wie die Zeit des Übergangs der ro¬
manischen Schriften in gotische. Ganz ähnlich entstanden verschiedene Schriften von
gemischtem Stiltypus, in denen charakteristische Merkmale einer untergehenden und
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FRÜHE INSCHRIFTENMAJUSKEL DER RENAISSANCE
einer neu entstehenden Stilepoche mehr oder weniger überwogen. Darum hat auch
die FRÜHE INSCHRIFTENMAJUSKEL DER RENAISSANCE kein einheitliches
Aussehen, ihre Beispiele zeigen in jedem isoherten Fall eine sehr individuelle Zusam¬
mensetzung des Alphabets und der Zeichnung der einzelnen Buchstaben. Größten¬
teils waren die Versuche, eine neue Inschriftenschrift zu schaffen, bei weitem nicht so
erfolgreich, als daß man ihre Ergebnisse mit jenen der Bildhauerei der Frührenais¬
sance, die schon seit dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts Werke von höchster
Meisterschaft nachweisen kann, auf eine Stufe stellen könnte. Und gerade an solchen
bildhauerisch hervorragenden Objekten, die man durch eine Inschrift ergänzen mußte,
kommt das Umhertappen der Schriftkunst der Renaissance manchmal besonders un¬
günstig zum Ausdruck.
Der Grund dieser anfänglichen Mißerfolge liegt wahrscheinlich darin, daß die An¬
strengungen der Schöpfer von Inschriften der Frührenaissance von Anfang an nicht
einheitlich auf die besten Beispiele altrömischer Schriftkunst orientiert waren. Ohne
direktes Erkennen der Grundprinzipien der Zusammensetzung, Konstruktion und
zeichnerischen Verarbeitung der klassischen römischen Monumentalmajuskel war es
sehr schwierig, diese schöne Schrift des antiken Altertums nachzuahmen und zu re¬
generieren. Sie war schon vergessen, und es mußte erneut mit Fleiß entdeckt werden,
worauf eigentlich die klassische Proportionsordnung der römischen scriptura quadrata
der hochklassischen Periode beruhte, nach welchen Grundsätzen ihre Zeichnung, die
Formung ihrer Serifen und die Verteilung ihrer Schatten gehandhabt wurde. Es wäre
aber töricht zu bedauern, daß diese Eigenschaften der klassischen römischen Monu¬
mentalschrift nicht gleich zu Beginn der Renaissance entdeckt wurden und daß es zur
unmittelbaren Nachahmung dieser Muster erst viel später kam. Wäre dies sofort ge¬
schehen, so müßten wir auf eine Menge sehr interessanter Schriften verzichten, die
auf dem Wege zu diesem Ziel entstanden. Man braucht nicht zu bedauern, daß zu¬
nächst in verschiedene Richtungen vorgefühlt und erst allmählich diese oder jene
Eigenschaft der hochrömischen Inschriftenmajuskel entdeckt wurde. Aber auch ohne
Kenntnis der Zusammengehörigkeit und Untrennbarkeit aller Bestandteile der gra¬
phischen Ausstattung der Zeichnung ihres Alphabets konnten graphisch bemerkens¬
werte Schriften entstehen - und sie entstanden wirklich -, die den Impuls zu einer
ganz anders gerichteten weiteren Entwicklung der Lateinschrift geben konnten, wenn
das nicht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gerade durch das viel gründli¬
chere und hartnäckigere Studium und Nachahmen antiker Muster verhindert worden
wäre. Die Verheißung einer solchen von der fernen Vergangenheit recht unabhängigen
Entwicklung war in gewissem Maße auch schon die gemischte Gotik-Renaissance-Über¬
gangsform, die zwar in vielen und wohl sogar den meisten Fällen mehr ein Zeichen der
Ratlosigkeit der Schöpfer früher Inschriften der Renaissance, in einigen anderen Fällen
aber nicht ohne graphischen Reiz der Lösung einiger Bestandteile des Schriftbildes
war. Im übrigen ist diese Form nicht nur für die früheste Periode der Entwicklung
der Renaissance-Majuskel typisch; Schriften dieser Art begegnen wir auf italienischen
Inschriften auch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und auf außeritaheni-
schen Renaissance-Inschriften, wie zum Beispiel in den böhmischen Ländern, auch
durch das ganze 16. Jahrhundert. Gewöhnlich sind es Schriften, die zwar auf den
ersten Blick mit ihrem Gesamtcharakter ihre Zugehörigkeit zur Kategorie der Re¬
naissance-Majuskel beweisen, aber gleichzeitig mit einigen graphischen Elementen
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