KAPITEL IL DIE ANTIQUA UND ITALIKA
DES KLASSIZISTISCHEN TYPUS
DER KLASSIZISMUS als europäischer Universalstil kam zwar in Rom schon im
zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts auf und trug seine reifsten Früchte, zum Beispiel
in der Malerei Nicolas Poussins, schon um die Mitte dieses Jahrhunderts, aber in der
Entwicklung der Schrift spiegelt er sich erst in seiner zweiten Phase wider, als er vor¬
übergehend einem neuen radikalen Ansturm des Barocks in seiner dekorativen Roko¬
koform unterlag und sich sein Brennpunkt am Ende des 18. Jahrhunderts von Rom
nach Paris verlagerte. Nunmehr beherrschte der Klassizismus erneut und durchgrei¬
fender die Kunst und die materielle Kultur Frankreichs und von hier aus auch des
übrigen Europas. Er wurde zum offiziellen Stil des verfallenden Königtums Ludwig
XVI., die französische Revolution nahm ihn gleichfalls für sich in Anspruch, und
schheßhch lieh er in seiner abschheßenden Empireform dem napoleonischen Impe¬
rium und dem nachnapoleonischen Absolutismus die äußere Gestalt. Welch ein Bei¬
spiel von Stilkontinuität in einer so umstürzenden Folge der Gesellschaftsgeschichte !
Doch der Klassizismus, der in alle Zweige der schönen Künste und der Gebrauchs¬
kunst eingriff, äußerte sich nicht nur mit beharrhcher Kraft, sondern auch mit außer¬
gewöhnlicher Intensität. Die gleiche Kühle, die uns aus den Bildern eines Jacques-
Louis David, des Hauptrepräsentanten der klassizistischen Malerei und Favoriten all
dieser wechselnden Regimes entgegenweht, durchdringt alle Äußerungen der Kunst
und des Kunsthandwerks, somit auch der Typographie dieser politisch so bewegten
Zeiten und der auf sie folgenden Periode der Ermüdung und relativer politischen
Stagnation.
Auf die Schriftentwicklung hat der bunte historische Hintergrund dieser Periode
natürlich um so weniger abgefärbt, als der neuerhche Aufschwung des Klassizismus,
der hier in gewissem Maß durch die vorausgegangenen Formen des Übergangstypus,
ein Erbe des barocken Klassizismus des 17. Jahrhunderts, vorbereitet worden war, sich
nicht mehr mit solcher Plötzlichkeit vollzog wie in der bildenden Kunst. Da nicht
einmal das Intermezzo des Rokokos, mit Ausnahme einer größeren Kondensation des
Schriftbildes, die typographische Schriftkunst merklich beeinflußte, verläuft die Ent-
wicklungshnie der Buchschrift überraschend gerade. Während aber die vorhergehende
Phase nicht imstande war, die Schriften des Renaissancetypus aus den Gießereien und
der Buchproduktion zu verdrängen, beherrschten die Schriftformen der klassizisti¬
schen Periode den Buchdruck völlig.
Wir haben schon im vorigen Kapitel erfahren, wodurch sich die Antiqua des klas¬
sizistischen Typus, von der sich einige Merkmale schon in den Übergangsschriften
des Barocks geltend machen, auszeichnet. Wenn auch nicht alle klassizistischen Schrif¬
ten die typischen Eigenschaften der Hochform in gediegener Gestalt aufweisen, d. h.
flache Haarserifen ohne Kehlung, eine kontrastreiche und schroffe Modellierung des
verengten Schriftbildes und eine vertikale Schattenachse, so sind die übrigbleibenden
gewöhnlich doch so deutlich, daß sie eine fast sichere Klassifikation der Schrift er¬
möglichen. Sind die Serifen, wie wir festgestellt haben, manchmal nicht ohne Kehlung,
so scheinen die Schriften dieser Gruppe gewöhnlich durch die präzise, kontrastreiche,
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ANTIQUA UND ITALIKA DES KLASSIZISTISCHEN TYPUS
kondensierte Zeichnung, die nach der vertikalen Schattenachse modelliert ist, und
besonders durch die extrem dünn gewordenen Haarstriche doch immer ausreichend
charakterisiert. Es war aber nicht nur eine Veränderung der Stilauffassung der Form,
die den Druckschriftschneider beeinflußte, sondern sicher nicht zuletzt auch der gleich¬
zeitige Fortschritt der eigentlichen Drucktechnik als unvermeidbare Voraussetzung
der Verwendbarkeit der virtuos geschnittenen haarfeinen Buch-Druckschriften. Ge¬
glättetes Papier und die vervollkommnete Druckerpresse ermöglichten schon vorher
eine befriedigende Reproduktion der Schrift John Baskervilles. Die Veränderungen
in der Papierstruktur und die mechanische Vervollkommnung der maschinellen Ein¬
richtung der Druckwerkstätten erlaubten den Schriftschneidern Effekte, die im frühen
Buchdruck undurchführbar waren. Garamond hätte es nichts genützt, wenn er die
Serifen besonders delikat modelliert hätte, denn die zeitgenössische Technik des eigent¬
lichen Druckes wäre zur Reproduktion nicht fähig gewesen. Der technische Fortschritt,
der der Buchdruckproduktion so viel brachte, war an sich für die Typographie noch
kein Fortschritt. Schon das geglättete Papier war für das Gebrauchsbuch nicht von
Vorteil, denn wenn es einerseits den Druckprozeß erleichterte, blendete es anderer¬
seits mit seinem Glanz den Leser. Auch die einheitliche vertikale Modellierung der
kondensierten Schriftzeichnung förderte nicht automatisch die Lesbarkeit, da sie mehr
die Verwandtschaft der Züge der verschiedenen Lettern des Alphabets betonte als die
Merkmale, durch die sich die Buchstaben voneinander unterschieden. So wurde der
Grundsatz der erwünschten Differenzierung der Merkmale der Schriften alten Schnittes
durch die uniforme Zeichnung der 'modernen' Schrift ersetzt.
Die Bezeichnung 'Moderne' für die Druckschriften, die wir hier zu einer Gruppe unter
der Bezeichnung ANTIQUA UND ITALIKA DES KLASSIZISTISCHEN TYPUS
zusammenfassen, verwendete erstmalig Pierre Simon Fournier für die Schriften des
Übergangsschnitts seiner Zeit, und bis heute blieb sie in der enghschen Fachtermino¬
logie erhalten. Übrigens ist diese Bezeichnung auch heute nicht ganz unbegründet,
denn bei der klassizistischen Antiqua und Itahka ist die zweitausendjährige Ent¬
wicklung der Buch-Lateinschrift inzwischen stehengeblieben. Es gibt auch keine An¬
zeichen dafür, daß sich in absehbarer Zeit eine wirkhch neue und universale Form
zeigen könnte, durch die die Entwicklung der Buchschrift erneut in Bewegung käme.
Wie auf allen Gebieten, gab Paris auch auf dem der Typographie gegen Ende des
18. Jahrhunderts den Ton an - es wurde zum zeitgenössischen Brennpunkt des Klas¬
sizismus und aller europäischer Kultur überhaupt. Der gute Ruf des französischen
Buchdrucks dieser Zeit deckte sich wiederum mit dem Ruhm einer einzigen Drucker¬
familie, zu der François Didot (1689-1757), der Sohn eines aus Lothringen stam¬
menden Kaufmanns, durch die Eröffnung der Druckerei und Buchhandlung Bible
d'Or in Paris den Grundstein legte. Um das Jahr 1789 wirkten in den verschiedenen
Zweigen des Pariser Buchmarktes nicht weniger als sieben Mitglieder der Familie
Didot, die zu den glänzendsten in der Geschichte des Buchdrucks gehören: François
Ambroise mit seinen zwei Söhnen und sein jüngerer Bruder Pierre François mit seinen
drei Söhnen. François Ambroise Didot (1730-1804), der Erbe des Famihenunternehmens
und Begründer des älteren, von unserem Standpunkt aus bedeutenderen Zweigs der
Dynastie, dessen Mitglieder mit dem Zusatz l'Aîné gekennzeichnet werden, erweiterte
darüber hinaus seine Tätigkeit als Drucker und Verleger, die ihm an und für sich
einen bleibenden Ruhm sicherte, noch um eine Schriftgießerei. Er erwarb sich nicht
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