DIE LATEINSCHRIFT DER RENAISSANCE-INSCHRIFTEN
alterlichen Ideahsmus und der Aufhellung der Weltanschauung und des Lebens¬
milieus sollte die Rückkehr zum Erbe der Antike, zum Rationalismus der klassischen
Philosophie und zum Realismus der antiken Kunst mit ihrer Betrachtung der Schön¬
heit des lebenden Menschen und aller Geschenke der Erde werden.
Mit der Hinwendung zum Studium und zur Nachahmung der Antike, mit dem
Lesen und Abschreiben der klassischen Literatur kommt es gleichzeitig auch zu einer
Rückkehr zu vorgotischen Schriftformen. Und es ist bezeichnend, daß in dieser Ent¬
wicklung die größte Persönlichkeit des beginnenden Humanismus richtungweisend
war, nämhch der Dichter Francesco Petrarca aus Arezzo (1304-13 74), der in ver¬
schiedene Gebiete der Bildung, Philosophie, Geschichte und Archäologie eingriff und
als erster den Gedankeninhalt der Bewegung zusammenfaßte, gleichzeitig aber uner¬
müdlich alte Handschriften der klassischen Literatur sammelte und selbst oder mit
seinen Schülern abschrieb. In seinem Hause bot er jahrelang jungen Studenten Unter¬
halt, deren Hauptaufgabe gerade in dieser Tätigkeit bestand. Handschriften aus der
Feder Petrarcas und seiner Schüler sind bis heute erhalten, und auch in seinen Briefen
finden sich Absätze mit kritischen Bemerkungen über das erwünschte Niveau der
Schreibpraxis. Zu seiner Zeit mußte ein Liebhaber von Büchern allerdings gleich¬
zeitig ein guter Schreiber sein, da er, um zu einem Buch zu kommen, oft genötigt
war, die geliehene Handschrift abzuschreiben. Die Schrift dieser humanistischen Ab¬
schriften der altrömischen Klassiker, ebenso wie die der frühen Inschriften der Re¬
naissance war keine der zeitgenössischen Schriften des gotischen Typus, oder sollte
es wenigstens nicht sein, sondern die 'neue' scriptura antiqua. Die Entwicklung zu dem
so beschaffenen Ideal der Renaissance-Schriftkunst hatte aber in den Inschriften und
Büchern oder Urkunden nicht den gleichen Verlauf, und deshalb muß man die Ent¬
wicklung der Schriften der Renaissance-Inschriften von der Entwicklung der hand¬
schriftlichen und natürlich auch der Druckschriften der Renaissance gesondert be¬
sprechen.
Das Interesse der ersten Humanisten für die klassische Literatur war von einem
starken Interesse für die klassische Archäologie, fleißigem Studium und dem Ab¬
schreiben alter römischer Inschriften begleitet. Dieser Tätigkeit widmeten sich bereits
die Freunde Petrarcas, von denen beispielsweise Cola di Rienzo in den vierziger Jahren
des 14. Jahrhunderts eine beachtliche Sammlung von Abschriften römischer Inschrif¬
ten anlegte, eine Sammlung, die sich teilweise bis heute erhalten hat. Ein anderer
Freund Petrarcas, Giovanni Dondi, führte Vermessungen des Pantheons, des Kolos¬
seums und der Trajanssäule in Rom durch und kopierte eine Reihe von Inschriften
auf Triumphbögen und anderen Denkmälern der römischen Baukunst. Später sam¬
melte auch Poggio Bracciohni aus Florenz (1380-1459) leidenschaftlich römische In¬
schriften, wobei ihn der florentinische Kanzler Collutio Salutati unterstützte. Als Ar¬
chäologe und Epigraph ragte der Kaufmann Ciriaco de'Pizzicoli hervor, der seine
Amateurtätigkeit in seinem Geburtsort Ancona begann und nach 1424 in Rom fort¬
setzte. Einen bedeutenden Anteil an der lateinischen Epigraphik nahmen von dieser
Zeit an auch die bildenden Künstler, die im Laufe der Zeit das Sammeln durch das
Studium der Gesetzmäßigkeiten der klassischen Schriftkunst ergänzten. So ist der be¬
kannte Maler Andrea Mantegna ( 1431-1506) in der lateinischen Epigraphik be¬
sonders berühmt, und seine Verdienste auf diesem Gebiet wurden auch von der mo¬
dernen Wissenschaft voll anerkannt, denn in das Werk Corpus Inscriptionum Latinarum
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RENAISSANCE DER KLASSISCHEN MONUMENTALSCHRIFT
sind zwei der Inschriften eingereiht worden, die Mantegna als sorgfältige Kopien in
einige seiner Bilder hineinkopierte, in diesem Falle in die Fresken aus dem Leben des
hl. Jakob in der Eremitani-Kapelle zu Padua. Eine Kopie ähnlicher Inschriften hinter¬
ließ in seinem Skizzenbuch auch der Schwiegervater Mantegnas, der Maler Jacopo
Belhni (etwa 1400-1470). Unter den Architekten beschäftigten sich mit dem Studium
klassischer Inschriften Leone Battista Alberti (etwa 1404-1472), Fra Giovanni del
Giocondo (gest. 1520) und Sebastiano Serlio (1475-1552). An der klassischen Schrift¬
kunst waren anscheinend Leonardo da Vinci und wahrscheinlich auch Michelangelo
lebhaft interessiert, obwohl das nur durch die herrlichen Inschriften belegt werden
kann, die dieser zum Beispiel in seinen Fresken an der Decke und den Lünetten der
Sixtinischen Kapelle anbrachte, und vielleicht auch damit, daß er die Übertragung
der Inschrift Fasti Consulares in den neu eingerichteten Raum Sala dei Fasti im Pa¬
lazzo dei Conservatori auf dem Kapitol in Rom leitete.
Aus dem allgemeinen Interesse für die altrömischen Inschriften vom äußersten Be¬
ginn der humanistischen Bewegung an wird gewöhnhch die Schlußfolgerung abge¬
leitet, daß das Studium dieser Denkmäler notwendig vom Studium ihres graphischen
Aspekts begleitet war, vor allem vom Studium der zeichnerischen Gestaltung der klas¬
sischen römischen Monumentalschrift, und daß schon in dieser frühen Periode der
Renaissance gleichzeitig die eigentliche Renaissance der klassischen Monumentalschrift be¬
ginnt. Allgemein wird angenommen, daß die Hinwendung von der gotischen Schrift
zur Renaissancereplik der klassischen scriptura quadrata sich plötzlich vollzog und
von dem Bestreben herrührte, die klassischen altrömischen Vorlagen möglichst getreu
nachzuahmen. Diese Auslegung von der direkten und unmittelbaren Rückkehr zu
den hochantiken Schriftformen ist aber falsch und resultiert zweifellos daher, daß der
Verlauf der Entwicklung der Inschriftenmajuskel in der Frührenaissance bisher nicht
differenziert genug und nicht in seiner ganzen Breite studiert wurde. Es wäre vor
allem nötig, die Inschriften der itahenischen Renaissance systematisch zu sammeln
und in einem Korpus zu veröffentlichen. Solange eine solche Herausgabe von In¬
schriften, besonders aus der Zeit der frühen Renaissance, unterbleibt, sind wir immer
nur auf die Veröffentlichungen von Skulpturen und Architekturen der itahenischen
Renaissance als auf die Hauptquellen der Belehrung angewiesen, aber diese Publika¬
tionen haben meist insofern sehr erhebliche Mängel, als sie sich in den Abbildungen
auch dann nur auf Aufnahmen der bildhauerlich-figürhehen Seite der entsprechenden
Objekte beschränken, wenn die Inschriften, wie zum Beispiel auf Grabmälern, un¬
trennbare kompositioneile Bestandteile des Ganzen bilden. Doch man kann auch aus
diesen beschränkten Quellen der Forschung leicht zu dem Schluß kommen, daß der
Entwicklungsweg der Inschriftenmajuskel der Renaissance nicht so gerade verlief,
wie man das gewöhnhch annimmt, und daß in den Inschriften der Frührenaissance
eine ganze Reihe Übergangsschriften vorkommen, die es zu den besten Renaissance¬
repliken der klassischen römischen Monumentalschrift noch sehr weit haben, jenen
Repliken, die zum Ausgangspunkt für die Entwicklung der lateinischen Majuskel in
den künftigen Jahrhunderten bis in unsere Zeit wurden. Wir beobachten, daß dieser
Entwicklungsprozeß der italienischen Schriftkunst weit in die zweite Hälfte des 15.
Jahrhunderts hineinreicht und außerhalb Italiens noch länger andauert. Offenbar
haben erst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in den italienischen Inschriften
die typischen Majuskeln der Renaissance in der Form Fuß gefaßt, in der sie üblicher-
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