RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
Ungenauigkeit schuldig zu machen, wenngleich dies im Interesse einer möglichst ein¬
fachen Charakteristik einiger jüngerer Schriftformen geschehen wird.
Die Unziale wurde zur formalen lateinischen Buchschrift und ersetzte als solche die
überlebte Majuskelschrift, die klassische Kapitale. Auch die Unziale wird zu den
Majuskelschriften gerechnet, wenn auch nicht ganz mit Recht, obwohl sie in der
weiteren Entwicklung den Eindruck einer vorwiegend im Majuskelsystem geschrie¬
benen Schrift hervorrufen kann. In der klassischen Kapitale ragten nur höchst selten
gewisse Buchstaben, z. B. das F, I, L über die Zeilenhöhe hinaus. Im Unzialalphabet
der St.-Cyprians-Episteln (Abb. 105) ist dies bei bedeutend mehr Buchstaben der
Fall, obwohl es in den Textspalten auf den ersten Blick nicht sonderlich auffällt.
Schon der fette Schrägbalken des A setzt oft oberhalb der Durchschnittshöhe an, und
hoch überragt sie stets das große Schriftbild des B. Ähnlich langgezogen ist der zweite
Strich des D und der erste des H. Auch der fette Schaft des L wird gleich hoch ange¬
setzt. Unter die Fußlinie werden sodann die senkrechten Striche der Buchstaben F, P,
Q und manchmal auch des I und R verlängert. Dasselbe gilt vom dünnen Schenkel
des X und vom zweiten Strich des G, der manchmal besonders tief hinabreicht. Die
Verletzung des Majuskelsystems durch diese darüber hinausstoßenden Striche ent¬
behrt nicht einer bemerkenswert ästhetischen Wirkung, aber wir dürfen sie nicht als
bloßes Ergebnis des kalligraphischen Strebens nach neuer Variierung des lateinischen
Alphabets im Geist des ästhetischen Fühlens der Zeit werten. Denn diese Tatsache
hatte vor allem eine praktische Bedeutung, in der formalen Buchschrift für besondere
Zwecke wurde auf diese Weise eine schärfere Unterscheidung erzielt und die Lesbar¬
keit der Unziale verbessert, die durch die Vermehrung der Zahl der Rundformen und
die durchgehend runde Gestaltung der Schriftzüge nahezu alle Horizontalen - diesen
wichtigen Bestandteil der Schriftzeichnung - einbüßte. In der Unziale blieben ins¬
gesamtfünfhorizontale Striche zurück, und zwar je ein Querstrich bei den Buchstaben
E, L und T und zwei beim F. Der Ausgleich beider Grundrichtungen der Schrift¬
konstruktion war damit gestört, aber dafür gewann die Unziale den ihr eigenen
Charakter der Schriftzeichnung.
Nach der Art und Weise der graphischen Ausführung kann man die Schrift der
St.-Cyprians-Episteln als Unziale mit schräger Schattenachse qualifizieren. In dieser Hin¬
sicht ist sie der alten klassischen graphischen Tradition verpflichtet, die jedoch schon
zuvor von der anders orientierten Schriftkunst aufgegeben wurde. Diese Abhängigkeit
macht sich zum Beispiel in der vertikalen Schattenachse der Schriften der Epitomae
Livii und De judiciis bemerkbar. Trotz dieser Tendenz blieb die Unziale mit schräger
Schattenachse weiterhin und lange Zeit als eine Schriftform lebendig, die eine ver¬
hältnismäßig große Schreibgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Erfüllung hoher An¬
forderungen an die Repräsentationsfähigkeit einer formalen Schrift für außergewöhn¬
liche Zwecke zuließ. Der gewöhnlich sehr starke Kontrast der geraden Haar- und
Schattenstriche und die Schattenverteilung in den Rundstrichen richteten sich nach
Regeln, die wir bereits aus den älteren römischen Hand- und Inschriftenschriften
kennen. Der Ansatz oder Abschluß der einzelnen Striche war in diesem Fall entweder
stumpf oder hatte die Form ebenso stumpfer schräger Schreibserifen. Eine solcher¬
maßen traktierte Unziale ist die Schrift nicht nur der St.-Cyprians-Episteln, sondern
auch vieler anderer Handschriften, als deren älteste meist ein Fragment der Ab¬
handlung Ciceros De re publica auf einem Palimpsest der Vatikanbibliothek gilt, das
194
AxfccàA
ec6f7c.c.
chhii|L
TUlpv>kj
kJо |’c] px
SITU MX
195