RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
es sich nun um Buchkodizes auf Papyrus handelt, wie z. B. das ägyptische Fragment
einer Abschrift des Vergil mit einer griechischen Übersetzung aus dem 3.-4. Jahr¬
hundert, oder um Pergamentkodizes von der Art des juristischen Textes De judiciis
aus gleicher Zeit und gleicher Provenienz (Tafel XVII a). Im Alphabet der Schrift
dieser Handschrift (Abb. 104) stellen wir nur geringfügige Abweichungen von der
Schrift der Epitomae des Livius fest. Nur die Feder ist hier noch breiter zugeschnitten
und wurde in noch senkrechterer Lage zur Zeilenhorizontalen gehalten. Diese Tatsache
erklärt Jean Mallon mit der Veränderung der Lage auf Grund der Schrägstellung des
Kodexfolios beim Schreiben, was bei den langen Streifen der Papyrusrollen nicht
möglich gewesen sein soll. Aus der graphischen Praxis wissen wir jedoch, daß ein
derartiger Effekt mit der schräg zugeschnittenen Feder auf waagrecht liegendem
Schreibmaterial erzielt werden kann. Das Alphabet dieser Handschrift stimmt nicht
nur hinsichtlich der Schattenachse, sondern auch in der Konstruktion selbst und im
Duktus mit der Schrift der Epitomae überein. Ausnahmen bilden hier nur der weiter
geöffnete Bauch des Buchstabens A, die größeren Bäuche des B, D, O, Q,und die Lage
des F-Querstrichs fast in der Horizontalen der Fußlinie. Mit der Form der Buchstaben
B, D und R werden die Alphabete der Handschriften Epitomae aus dem 2.-3. Jahr¬
hundert und De judiciis aus dem 3.-4. Jahrhundert zu direkten Vorläufern des ty¬
pischen Alphabets einer ‘halbminuskelartigen’ Schrift, die seit dem Ende des 5. Jahr¬
hunderts eine bedeutsame Position unter den lateinischen Buchschriften innehatte.
Inzwischen entwickelte sich jedoch aus den römischen gemischten Buchschriften
des 2. und 3. Jahrhunderts eine andere gemischte Schrift von ausgeprägtem Typus,
die in bereits vollendeter Form in den Buchhandschriften des 4. Jahrhunderts vor¬
kommt und in Hinkunft zur Hauptschrift vor allem der exklusiven Handschriften
werden sollte. In dieser Rolle ersetzte sie nach und nach die unter der Bezeichnung
rustikale Kapitale bekannte kalligraphische Spätform der klassischen Kapitale. Zu¬
sammen mit dieser und der umstrittenen ‘eleganten’ Kapitale, die wir später behandeln
werden, ordnet sie die traditionelle paläographische Klassifizierung in die Gruppe der
römischen Majuskel-Buchschriften ein und nennt sie RÖMISCHE UNZIALE. Die
Herkunft dieser Bezeichnung ist bislang noch nicht geklärt. Ihr ältester Nachweis
findet sich in einem Text des hl. Hieronymus aus dem Ende des 4. Jahrhunderts, aber
er läßt kein sicheres Urteil darüber zu, daß hier jene Schrift gemeint war, die wir
heute unter diesem Namen verstehen. Auch aus anderen Quellen wird nicht deutlich,
was man eigentlich mit Unziale meinte. Gewöhnlich ist man der Ansicht, daß das
Wort uncia (Unze, d. i. ein Zwölftel des Standardmaßes der Länge, des Inhalts und
Gewichts) die großen Maßverhältnisse dieser Schrift oder den hohen Preis der luxu¬
riös ausgestatteten Unzialhandschriften charakterisierte. Eine andere Erklärung geht
von der kleinen Buchstabenzahl in den Zeilen dieser Handschriften aus, die durch¬
schnittlich etwa zwölf Buchstaben betragen haben soll (W. H. P. Hatch). Wie immer
dem auch sei, heute versteht man unter der Bezeichnung Unziale ganz eindeutig die
charakterische Buchschriftform einer großen Zahl lateinischer Handschriften, von
denen mehr als 700 aus der Zeit zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert und aus den
verschiedensten Gebieten des westeuropäischen Kulturbereichs erhalten sind. Der
Ursprung dieser so beliebten Schrift wurde in der älteren Paläographie ausnahmslos
mit einer bloßen graphischen Abänderung der ‘quadratischen’ Kapitale erklärt, was
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RÖMISCHE UNZIALE
auf neue zeitbedingte Forderungen und eine neue Schreibtechnik auf einem neuen
Schreibmaterial, dem Pergament, zurückzuführen sei. Andere, weit annehmbarere
Theorien erklären die Entwicklung der römischen Unziale einerseits durch den Ein¬
fluß der gleichzeitigen römischen Kursiv, was allerdings auch nicht die wörtliche
Wahrheit darstellt, anderseits durch Einfluß und Beispiel der viel älteren griechischen
Unziale. Und in der Tat, beim Vergleich der griechischen und lateinischen Unziale
aus etwa gleicher Zeit können wir leicht erkennen, daß beide Schriften nicht nur in
ihrem Gesamtcharakter verwandt sind, sondern daß auch die Zeichnung mancher
Buchstaben identisch ist. Vor allem handelt es sich um die typische Form des A, deren
Provenienz aus der griechischen Unziale wir hier bereits bei den römischen gemischten
Schriften des 2.-4. Jahrhunderts erwähnt haben. Weiter ist es die Rundform des Buch¬
stabens E - eta, deren Anwesenheit für die Bestimmung der Unziale gleichfalls von
entscheidender Bedeutung ist. Sie stellt nämlich die Verbindung dreier gerader Striche
vor, des Schaftes, des oberen und des unteren Querbalkens, die einen einzigen Bogen
in Gestalt des Buchstabens С bilden. Von diesem unterscheidet sich das Unzial-E
deutlich genug durch den stehengebliebenen mittleren Querstrich. Die Verwandt¬
schaft beider Unzialen kommt auch in einer weiteren, für die römische Unziale des
kalligraphischen Typus außerordentlich charakteristischen Form zum Ausdruck, der
des Buchstabens M als einer Umkehrung des omega der griechischen Unziale. Rechnen
wir noch eine ganze Reihe weiterer Buchstaben hinzu, die in beiden Schriften eine
völlig gleiche Zeichnung aufweisen, so ist die Wahrscheinlichkeit der vorausgesetzten
griechischen Herkunft der römischen Unziale sicher groß.
Während wir den griechischen Ursprung der römischen Unziale auf Grund der
Zeichnung einer ganzen Reihe von Buchstaben nachweisen können, bleibt uns das bei
jenen Buchstaben des lateinischen Alphabets versagt, die im griechischen nicht Vor¬
kommen, und solcher gibt es nicht wenig. Am überzeugendsten scheint uns deshalb
die Erklärung Jean Mallons zu sein, der die Entwicklung der römischen Unziale über¬
aus anschaulich von den römischen gemischten Schriften des 1.-3. Jahrhunderts -
wir haben sie soeben kennengelernt - ableitet. Er bedient sich zu diesem Zweck eines
Vergleichs der Alphabete der Handschriften De bellis Macedonicis vom Ende des
i. Jahrhunderts, Epitomae Livii aus dem 2.-3. Jahrhundert und einer der ältesten
Unzialhandschriften, der St.-Cyprians-Episteln aus dem 4. Jahrhundert (Tafel XXIX).
Im Alphabet dieser frühen römischen Unziale (Abb. 105) stellen wir ebenso wie in
jenem der Liviushandschrift (Abb. 103) tatsächlich eine fast völlige Übereinstimmung
der Zeichnung und des Duktus der meisten Buchstaben fest, sofern wir uns dabei
allerdings die verschiedene Lage der Schattenachse wegdenken. Anders gestaltet sind
hier nur die Buchstaben B, D, R und S, aber von gleicher Form sind sie in einem
anderen und älteren Alphabet, in der Buchschrift der De-bellis-Handschrift (Abb. 101 ).
Daraus wird klar, daß die Unziale der St.-Cyprians-Episteln Schriften vom Typus
beider älteren erwähnten Handschriften amalgamiert hat. Die römische Unziale ist
also eine weitere römische gemischte Schrift, eine Mischung von Elementen der klas¬
sischen Kapitale mit solchen der Kursiv, eine weitere scriptura mixta, in der nur der
Buchstabe A griechischen Ursprungs ist. Obwohl die römische Unziale als Ganzes
unbestreitbar ihren eigenen Charakter hat, kann keiner ihrer Buchstaben, wie wir sehen,
rechtmäßig als typisch unzial gelten (Mallon). Trotzdem werden wir im Verfolg
der weiteren Entwicklung nicht umhin können, uns ab und zu dieser traditionellen
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