RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
leicht nur bei dem auf der Rückseite des Fragments erhaltenen Buchstaben В (Mallon,
Observations) der gleiche ist wie in der klassischen Kapitale. Eine vollständige Kur¬
sivform haben die Buchstaben D, L, P und Q,, während kursive Deformationen bei
anderen nur in den Details der Schriftzeichnung, im Ansatz oder Abschluß eines
Strichs zur Geltung kommen. Eine neue Form zeigt der Buchstabe H, dessen rechter
Schaft auf die Hälfte reduziert wurde und so unmittelbar an den Querstrich im
Duktus der heutigen Minuskelform dieses Buchstabens anknüpft. Im ganzen ist diese
schwere und breite Schrift auch darin ‘kursiv’, daß sie sich nicht nach dem Majuskel¬
system der römischen Kapitale richtet, sondern ziemlich konsequent an ein verengtes
System der Fußlinie und der Linie der mittleren Minuskelhöhe hält, das das eigentliche
Schriftbild umfaßt. Eine Ausnahme bildet außer den kursiv herausgezogenen Stamm¬
längen und Ausläufern des D, F, H, Q, und R vor allem der Buchstabe B, der in
Majuskelgröße und -form geschrieben wird, und das O, dessen kleiner Kreis in der
oberen Hälfte der mittleren Höhe ähnlich untergebracht ist wie in den zeitgenössischen
Kursivtexten.
Während die Bedeutung der Schrift des Handschriftfragments De bellis Macedo-
nicis vom Ende des i. Jahrhunderts zum ersten Mal eigentlich erst von Jean Mallon
gewürdigt wurde, und dies in jüngster Vergangenheit, stand eine andere römische
gemischte Buchschrift dieser Art schon seit langem im Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses. Es ist dies die Schrift eines Fragments der Epitomae des Livius aus einer
gleichfalls in Oxyrhynchos gefundenen Papyrushandschrift des 2.-3. Jahrhunderts
(Tafel XXVIII). Die Schrift ist hier wieder sehr formal und schwer und somit schon
darin auf den ersten Blick jener der De-bellis-Handschrift verwandt. Diese Verwandt¬
schaft bestätigen jedoch auch zahlreiche gemeinsame Merkmale in der Zusammen¬
setzung des Alphabets (Abb. 103) und der analoge Verzicht auf das konsequente
Prinzip des Majuskelsystems. Ganz verschieden ist in der Handschrift der Epitomae
der graphische Schriftcharakter, denn sie ist nicht nach einer schrägen, sondern nach
einer nahezu senkrechten Schattenachse geschrieben, und dies mit einer noch breiter
zugeschnittenen Feder. Daraus ergibt sich, daß nicht die schrägen, sondern die ver¬
tikalen Züge die fettesten sind, während die der Horizontalen am nächsten kommen¬
den Striche am dünnsten geraten. Im Übrigen stimmen die Buchstaben С, E, F, G,
I, L, N, O, S, T, V, X, Y mit der De-bellis-Schrift und der klassischen Kapitale
überein. Allerdings wird das E völlig rund gestaltet, die Diagonale des N wird zur
unmerklich schräg verlaufenden Verbindung der beiden Schäfte und ähnelt fast dem
Querstrich der H-Majuskel, aber all das hat keine allzu große Bedeutung. Wichtiger ist
die Veränderung des Duktus beim A ; dergleichen finden wir in keiner vorhergehenden
römischen Schrift vor, aber beim Buchstaben alpha in der griechischen Buchschrift
ist ein derartiger Duktus ganz geläufig. Die Herkunft dieser Form des lateinischen A
kann daher nicht anders erklärt werden als durch Ableitung aus der zeitgenössischen
griechischen Schrift. Ganz neu ist hier das В in Minuskelform mit einem einzigen
Bauch rechts. Es wurde bereits früher in den Schriften epigraphischer Denkmäler aus
Pompeji festgestellt, aber man fand heraus, daß das auf Grund einer falschen Lesung
der fragmentarischen Texte geschehen war. Demnach kann das achte В in der Über¬
sicht der kursiven Modifikationen des lateinischen Alphabets (Abb. 112), wie es im
Corpus Inscriptionum Latinarum IV publiziert ist, nicht als В mit rechtem Bauch
gelten, sondern vielmehr als Fragment zweier Buchstaben, wahrscheinlich des В und
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103. Römische gemischte Buchschrift, 2.-3. Jahrhundert.
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