RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
werden kann. Eine ebenso hochentwickelte Kapitale ist auch die Schrift der Hand¬
schriften mit Werken anderer Autoren des Altertums wie des Terentius aus dem 4.-5.
Jahrhundert, des Sallustius aus dem 5. Jahrhundert u. ä. Graphisch von besonderer
Vollendung ist eine Handschrift des Hymnus de novo lumine paschalis abbati von
Prudentius in der Pariser Bibliothèque nationale, gleichfalls aus dem 5. Jahrhundert.
Das hohe Niveau dieser Kalligraphie hielt bis tief ins Mittelalter stand, ohne daß
die Schriftzeichnung dieser Majuskel sichtbare Degenerationsmerkmale aufgewiesen
hätte. Die klassische Kapitale blieb noch lange als Schrift ganzer Texte unverändert
in Gebrauch, beispielsweise in der Quedlinburger Handschrift, die in den Jahren
804-834 in der Kalligraphieschule des Klosters Tours entstand, oder im Berliner Evan¬
geliar aus Prüm, das gleicher Herkunft ist und ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert stammt
(Tafel XXVI). Die stabilisierte Zeichnung dieser Kapitale unterlag weder bis dahin
noch danach wesentlichen Wandlungen, weshalb wir nur ausnahmsweise ihren zeich¬
nerisch unterschiedlichen Modifikationen begegnen. Eine derartige seltene Ausnahme
stellt beispielweise die Schrift eines Pariser Evangelienmanuskripts aus dem 8. Jahr¬
hundert dar (Abb. 135), die durch das Eckige ihres Gesamtcharakters und durch die
abweichende Zeichnung einzelner Buchstaben bemerkenswert ist, z. B. des A mit
langer oberer Serife und Querstrich, des H in einer dem К sehr nahen Form, des
V mit einem Winkel, der unten durch einen verhältnismäßig langen Schlußstrich
zugeschnitten ist, des N mit niedrig ansetzender Diagonale u. ä. Die Beliebtheit der
klassischen Kapitale als kalligraphischer Form stellen nicht nur die außerordentlich
späten Beispiele ihrer Verwendung als Schrift für die Haupttexte, sondern auch frühe
Beispiele kalligraphischer Spielereien unter Beweis. Eine solche ist beispielsweise das
mit dieser Kapitale angedeutete Bild eines Kentauren in einer angeblich nach einer
Vorlage des 4. Jahrhunderts angefertigten Abschrift des Aratus aus dem 9. Jahrhun¬
dert, die sich im British Museum befindet (Tafel XXV). Falls diese Datierung tat¬
sächlich stimmt (Nordenfalk), handelt es sich zweifellos um das älteste Dokument einer
Kalligraphie dieser Art. Trotz ihrer Beliebtheit wird die ‘rustikale’ Kapitale seit dem
6. Jahrhundert als Textschrift immer seltener, aber sie bleibt bei Buchkapitelüber¬
schriften bis ungefähr ins 11. Jahrhundert in Gebrauch. Erst dann stirbt dieser Ast
des Stammbaums der Lateinschrift endgültig ab. Die klassische Kapitale war ihrem
ganzen Wesen nach eine Schrift, deren in ihren Anfängen schon vollendete Form
steril und die auf die weitere Entwicklung der Lateinschrift ohne Einfluß blieb. Denn
diese Entwicklung zielte in eine andere Richtung, weil sie einer Quelle entsprang, die,
wie es auch die nachfolgende formale Blüte der Lateinschrift bestätigte, ihr fast un¬
begrenzte Möglichkeiten eröffnete.
Diese Quelle waren die bereits erwähnten gewöhnlichen Schriften, die der alltägli¬
chen Verwendung in urkundlichen wie literarischen Handschriften dienten, also die
geläufigen Skripten aus der Gruppe der sog. Kursivschriften. Der anschaulicheren
Übersicht wegen sind sie hier in einem besonderen Kapitel zusammengefaßt. Ihr
Einfluß oder vielmehr der Einfluß ihrer Schreibtechnik machte sich bei den formalen
Schriften für außerordentliche Zwecke auf verschiedene Weise geltend. Manchmal
erkennt man ihn mehr am äußeren Gesamtcharakter einer Schrift als am Wesen der
Schriftzeichnung selbst, beispielsweise im Alphabet einer römischen Militärmatrikel
aus dem 2. Jahrhundert, die sich im Berliner Ägyptischen Museum befindet (Abb.
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100. Klassische Kapitale des 4.-5. Jahrhunderts.
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