RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
und der Bewunderung der zuständigen Wissenschaftler stehen, in den Schatten ge¬
stellt. Es handelt sich um Handschriften, die mit späten Versionen der damals längst
überlebten klassischen Kapitale geschrieben sind, und diese Schrift hat in der tradi¬
tionellen paläographischen Terminologie die Bezeichnung CAPITALIS RUSTICA
oder rustikale Kapitale erhalten. Der Name sollte hier allerdings nicht den Sinn rus¬
tikal - bäuerisch, ländlich haben, sondern jenen einer gewissen Freiheit und Leichtig¬
keit, die diese kalligraphische Replik der epigraphischen Dokumentarschrift von der
strengen Ordnung und Eleganz der chronologisch angeblich früheren kalligraphischen
Version der römischen Monumentalschrift unterscheidet. Wir haben diese irrtümlich
vorausgesetzte chronologische Abfolge der ältesten lateinischen Buchschriften bereits
erwähnt und werden besagtes Problem später noch berühren. Inzwischen seien hier
weitere charakteristische Merkmale genannt, die die traditionelle Klassifizierung bei
dieser ‘rustikalen’ Kapitale hervorhob. Neben der zeichnerischen Freiheit und Leich¬
tigkeit, die jedoch, vor allem wo es sich um erlesene literarische Werke handelte, nie
zu weit getrieben wurde, hob man ihre typisch schmalen Proportionen hervor, die
diese Schrift zur Verwendung bei kleinen Formaten vorbestimmt haben sollen, ins¬
besondere wo ein längerer Text die sparsame Nutzung des Materials verlangte. Das
entspricht jedoch nicht den Tatsachen, denn diese Forderung bezog sich sicher nicht
auf die Luxushandschriften des 4.-5. Jahrhunderts, die hier vor allem in Betracht
kamen. Interessant ist, daß Abschriften der Gedichte Vergils einen bedeutsamen An¬
teil an der ganzen Reihe dieser Handschriften haben, und die bekannteste und viel¬
leicht älteste derartige Vergilhandschrift ist das vatikanische Fragment der Aeneis
etwa aus dem 4.-5. Jahrhundert, der sog. Vergilius Vaticanus (Tafel XXIV), dessen
Ruhm vor allem auf die hochwertige malerische Ausgestaltung durch eine ganze Serie
in sich geschlossener und frei gemalter Illustrationen zurückzuführen ist. Auch am
handschriftlichen Aspekt dieses mit einer verhältnismäßig breiten Kapitale geschrie¬
benen Manuskripts ist natürlich nichts auszusetzen ; als charakteristisches Merkmal sei
hier nur die Zeichnung des Buchstabens V mit seinem vertikalen rechten Balken
genannt, der über den Berührungspunkt mit dem stark gekrümmten linken Schenkel
etwa in der Form unseres Minuskel-ы hinausragt. Mit einer etwas schmäleren Kapitale
ist eine andere berühmte Handschrift der Aeneis gleichfalls aus dem 4.-5. Jahrhundert
geschrieben, der fast unbeschädigt erhaltene Vergilius Palatinus. Seine Schrift gilt als
besonders schönes und typisches Beispiel der ‘rustikalen’ Kapitale. Stellen wir also
fest, worin sich das Alphabet dieser Schrift (Abb. 100) von jenem der klassischen
Kapitale des 1. Jahrhunderts unterscheidet. Schon auf den ersten Blick ist ganz offen¬
sichtlich, daß es sich hier um zwei einander sehr nahestehende Versionen derselben
Schrift handelt, die sich zwar durch ihre Proportionen unterscheiden, deren Duktus
aber im Grunde der gleiche ist. Die kalligraphische Künstlichkeit der Kapitale des
Vergilius Palatinus kommt nicht nur in der Gesamtverengung des Schriftbildes, das
insbesondere beim E und F die Grenzen der notwendigen Differenzierung der beiden
Buchstaben überschreitet, sondern vor allem im stärkeren Kontrast der Haar- und
Schattenstriche zum Ausdruck. Die Verlängerung ist bei der unteren Serife des Buch¬
stabens F manchmal so beträchtlich, daß der Unterschied zwischen ihm und dem
E völlig verschwindet. Dasselbe pflegt bei den Buchstaben I und L der Fall zu sein.
Von abweichender Form ist das G, aber wir sind auch ihr schon in den epigraphischen
Modifikationen der klassischen Kapitale des 1. Jahrhunderts begegnet. Öfter wird die
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KLASSISCHE KAPITALE
gemeinsame Höhe überschritten, was sich nicht mehr auf den Buchstaben I allein
bezieht, wie es beim Alphabet der älteren klassischen Kapitale der Fall war, sondern
auch auf das В und F. Der zweite Zug des Buchstabens В sodann wird oft unter die
Fußlinie verlängert. Kennzeichen des ganzen Alphabets ist die bereits erwähnte Kal-
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gg. Vergilius Romanus, 5.-6. Jahrhundert.
ligraphie der handschriftlichen Ausführung dieser offenbar nur noch künstlich am
Leben erhaltenen, aber trotzdem reizvollen Schriftform. Nach ähnlichen Grundsätzen
ist die ‘rustica’ auch in den übrigen zeitgenössischen Handschriften dieser Art stabili¬
siert; sie zeigen nur ganz unwesentliche Abweichungen des Duktus der einzelnen
Buchstaben. Ungeachtet der erwähnten Mängel, die ihre Lesbarkeit erschweren, ist
diese Kapitale in den besseren Handschriften, wo sie graphisch mit großer Sorgfalt
gestaltet wurde, eine Schrift von hohem künstlerischem Wert, schon deshalb, weil ihre
Form der Technik der graphischen Ausführung entspricht. Ihre dekorative Wirkung,
die nur durch reine graphische Mittel erreicht wird, durch die bloße Betonung des
Scheitels und Fußes der Buchstaben mittels verstärkter Horizontalen, ist auch heute
noch angenehm. Der graphische Reiz und die verhältnismäßige Einfachheit des Schreib¬
vorgangs waren zweifellos die Ursache der allgemeinen Beliebtheit dieser Kapitale,
die unter den übrigen Buchschriften dieses und der folgenden Jahrhunderte außer¬
ordentlich lange in Gebrauch blieb.
Im 5. Jahrhundert kam noch eine weitere Abschrift der Aeneis zustande, die in
Florenz befindliche Handschrift des Vergilius Mediceus. Sie entstand vor 494 in Rom
und ist mit einer weniger kontrastreichen Kapitale geschrieben. Auch hier wird der
Buchstabe V bereits völlig in Minuskelform gestaltet und sein rechter Schaft zuweilen
sehr tief unter die Fußlinie verlängert. Der letzte vatikanische Vergil, der Vergilius
Romanus (Abb. 99), der nunmehr ins 5.-6. Jahrhundert datiert wird, ist graphisch
vielleicht der vollkommenste von allen. Mit der hervorragenden Kalligraphie dieser
Kapitale kontrastiert ein wenig unvorteilhaft die dekadente Illustrationsmalerei dieser
Handschrift, die in dieser Hinsicht kaum mit dem Vergilius Vaticanus verglichen
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