RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
weniger vollendeten Vorgänger, die vorklassische Kapitale, schließen, die wir jedoch
gleichfalls nicht mit Sicherheit durch ein Beispiel aus den erhaltenen paläographischen
Denkmälern belegen können. Sicher ist, daß die klassische Kapitale der ältesten be¬
kannten Papyri eine geschriebene, kalligraphische Parallele zur klassischen römischen
Monumentalschrift darstellt, weil sie im Wesentlichen dieselbe Grundkonstruktion hat.
Sie unterscheidet sich von ihr vor allem durch die handschriftliche Umgestaltung
dieser Grundkonstruktion, die schreibgerechte Differenzierung in dünne und dicke
Striche, die schreibmäßige Ausführung der Serifen, die schreibmäßige Abfolge der ein¬
zelnen Schriftzüge oder den handschriftlichen Duktus der Schrift. Wir können uns
davon anhand eines Beispiels leicht überzeugen; am besten eignen sich hierfür die
erhaltenen Fragmente eines der ältesten Papyri dieser Art, die kalligraphische Ab¬
schrift des Konzepts einer Urkunde und dieses Konzept selbst, beide etwa aus den
Jahren 45-54 oder 47-48 stammend und im ägyptischen Oxyrhynchos gefunden
(Tafel XXIII a). Im Alphabet, das man aus der Schrift dieser Abschrift zur Gänze zu¬
sammenstellen kann, den Buchstaben Q ausgenommen, den wir nach J. Mallon einem
anderen ähnlichen, aber literarischen Manuskript entlehnt haben, sind die erwähn¬
ten Qualitäten der kalligraphischen Ausführung sicher deutlich genug (Abb. 97). Wir
sehen, daß die Handschrift mit Rücksicht auf den Modul, die Schriftgröße, mit einer
verhältnismäßig breit zugeschnittenen Feder geschrieben ist und daß die Schnittkante
dieser Feder grundsätzlich in einem fast gogrädigen Winkel zur Horizontale der Zeile
gehalten wurde. Daraus geht hervor, daß alle horizontalen Striche sehr fett sind, und
vor allem darin unterscheidet sich diese Kapitale von der klassischen römischen Mo¬
numentalschrift. In den Rundungen sind die Schatten begreiflicherweise auf die Schei¬
tel- und Fußpartie des Buchstabens verteilt. Die Zeichnung der einzelnen Buchstaben
ist von ausgeprägt kalligraphischer Art, die in erster Linie vom charakteristischen
Duktus, d. h. von der Aufeinanderfolge der einzelnen Schriftzüge abhängt. Beim
Buchstaben A beispielsweise begann der Schreiber oben mit dem dünnen linken
Schrägbalken, um ihn mit einem kurzen fetten Querstrich, einer Analogie der Serife
in der Monumentalschrift abzuschließen. Dann erst vollendete er die Zeichnung des
Buchstabens, indem er den dritten Strich in Gestalt des rechten Schrägbalkens hin¬
zufügte, der entweder gerade oder unten nach rechts oder auch scharf nach links
gebogen sein konnte. Diesen Vorgang müssen wir besonders gut in Erinnerung behal¬
ten, denn er wird uns später die Entstehung der kuriosen Form des Buchstabens В
in der damaligen geläufigen Kursiv erklären helfen. Ähnlich wie beim A und vielen
anderen Buchstaben des Alphabets war der erste und zweite Strich des Buchstabens
В ein dünner senkrechter Schaft und sein Abschluß durch einen fetten Querstrich,
der in diesem Fall nicht nur eine Serife, sondern auch den unteren Teil des unteren
Bauches dieses Buchstabens andeutete. Die beiden folgenden Striche, die allerdings
auf einmal, ohne Unterbrechung gezogen werden konnten, dienten zur Vollendung
des oberen, charakteristisch kleinen Bauches und der oberen Partie des unteren Bau¬
ches, die mit dem zweiten Strich verbunden werden konnte, ohne mit ihm notwendig
gekoppelt werden zu müssen. Das gilt analog vom Duktus des D. Die einzelnen Buch¬
staben haben in dieser Handschrift nicht immer eine einheitliche, uniforme Zeich¬
nung; manchmal unterscheiden sie sich ziemlich stark durch die unterschiedliche
Federführung. So z. B. ist der zweite Strich des Buchstabens С manchmal nach oben,
ein andermal wieder nach unten verbogen. Eine verschiedenartige Ausführung der
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gy. Klassische Kapitale, 1. Jahrhundert.
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