RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
dem 4. und 5. Jahrhundert beigemessen wurde; aus deren Schrift, einer formalen
Analogie der beiden Hauptschriftgattungen der lateinischen Epigraphie, glaubte man
schließen zu können, daß die wichtigsten Buchschriften der Anfänge der römischen
Buchmanuskripte oder wenigstens des letzten Jahrhunderts der römischen Republik
und der ersten beiden Jahrhunderte der Kaiserzeit zwei aus der Gruppe der epigraphi¬
schen Schriften übernommene Majuskelformen waren, nämlich die scriptura monumen-
talis und die scriptura actuaría, die aus den Inschriften in Stein und Bronze oder aus den
gemalten Inschriften unmittelbar auf die weniger beständigen Materialien der Buchpro¬
duktion Übergriffen. Man hielt es auch für mehr als wahrscheinlich, daß der epigraphi¬
sche Charakter dieser Schriften durch die Verwendung eines anderen Materials und ei¬
ner anderen Technik nicht mit einem Mal verändert wurde und daß es die ersten Schrei¬
ber beträchtliche Anstrengungen und viel Sorgfalt und Zeit gekostet haben mochte,
die erwähnten Vorbilder möglichst getreu nachzuahmen. Darum hielt man die beiden
ältesten damals bekannten Schriften der lateinischen Paläographie für mehr oder
weniger getreue Repliken älterer oder gleichzeitiger epigraphischer Vorbilder, und
so ist es eigentlich auch heute noch. Obwohl die — wie man damals annahm — älteste
überhaupt erhaltene römische Handschrift mit einer ‘Buch’-Version der Aktuar¬
schrift geschrieben war, von der wir übrigens wissen, daß sie selbst eine epigraphische
Replik der formalen Handschriftenschrift ist, hielt man dies lediglich für einen Zufall,
der die Wahrscheinlichkeit der allgemein akzeptierten Voraussetzung, daß die tat¬
sächlich älteste Form der lateinischen Buchschrift eine handschriftliche Modifikation
des klassischen Monumentalalphabets gewesen sei, nicht widerlegen konnte. Dieser
alte paläographische Lehrsatz, der sich so vertrauensvoll auf die Feststellung der la¬
teinischen Epigraphie über die analoge Priorität der Monumental- vor der römischen
Aktuarschrift stützt, stellte übrigens ständig und im Grunde genommen die einzige
bis in die neueste Zeit unangefochtene Erklärung der Anfänge der so reichen formalen
Entwicklung der lateinischen Buchschrift dar, obwohl es inzwischen zu neuen Ent¬
deckungen einer ganzen Reihe lateinischer Handschriften auf Papyrus aus den beiden
ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit gekommen war.
Gewisse Schattenseiten dieser so lange ungestörten Idylle von einer Lehre über die
ältesten Schriften der lateinischen Paläographie riefen zwar hier und dort schon früher
die Zweifel verschiedener Forscher wach, aber umwälzend erschüttert wurde sie erst
durch das Erscheinen der aufschlußreichen Arbeit Jean Mallons ‘Paléographie ro¬
maine’ aus dem Jahre 1952. Dieser hervorragende französische Forscher hat bereits
seit langem unsere besondere Sympathie als der einzige Theoretiker, der seine Ver¬
mutungen einer praktischen Prüfung unterzieht, indem er die alten Schriften, mit
denen er sich befaßt, eigenhändig nachzeichnet, um sich mit der Art ihrer Konstruk¬
tion und ihres Duktus vertraut zu machen. Diese graphische Methode hat ihm u. a.
auch zu gewissen Rückschlüssen verholfen, die die traditionelle Darstellung und damit
auch die traditionelle Klassifizierung der alten lateinischen Handschriftenschriften
in Frage gestellt haben. Es sind dies so überzeugende Rückschlüsse, daß ich nicht
gezögert habe, sie in ihren Grundzügen zu übernehmen und danach einige Korrek¬
turen an meiner Übersicht vorzunehmen, die sich zuvor, wie es auch nicht anders
möglich war, auf die traditionelle paläographische Hypothese stützte.
Der Hauptmangel der traditionellen Darlegung der Frühentwicklung römischer
Handschriftenschriften besteht darin, daß diese Darlegung nicht von den erkannten
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KLASSISCHE KAPITALE
Tatsachen ausgeht, sondern die älteste Entwicklung künstlich aus vereinzelt daste¬
henden und späten Handschriften des 4. und 5. Jahrhunderts rekonstruiert, die mit
den erwähnten beiden Majuskelschriftgattungen geschrieben sind. Die für älter ge¬
haltene der beiden Formen ist aber leider durch keine anderen und umso weniger
durch noch ältere Handschriften dokumentierbar. Durch zahlreiche und viel ältere
Denkmäler kann man jedoch jene Schrift belegen, die in der klassischen paläogra-
phischen Klassifizierung der ältesten römischen Buchschriften an zweiter Stelle steht.
Aus diesen verschiedenen Denkmälern, meist Papyrusfragmenten, ergibt sich, daß
die erwähnte Schrift sowohl für Buchhandschriften als auch für Urkunden verwendet
wurde, aber in beiden Fällen nur dann, wenn es sich um besondere Anlässe handelte.
Daraus könnte man folgern, daß es am Anfang der klassischen Periode überhaupt
keine besondere Buchschrift, keine spezielle littera libraría, sondern nur eine kalligra¬
phische Form für exklusive Zwecke gegeben hat, während für den Alltagsgebrauch
gleicherweise, wie wir noch sehen werden, in Urkunden wie in Buchhandschriften die
gewöhnliche ‘Kursiv’-Schrift verwendet wurde. Diese Ansicht wird jedoch meiner
Meinung nach durch die Tatsache entkräftet, daß unter den literarischen Handschrif¬
ten jene überwiegen, die mit einer formalen Schrift geschrieben sind, so wie unter den
Urkunden wiederum jene vorherrschen, deren Texte in einer Kursiv abgefaßt sind.
Denn die literarischen Handschriften für den Buchhandel mußten ja schon aus kom¬
merziellen Gründen eine besonders lesbare und gefällige Schrift haben. Anders ver¬
hielt sich das allerdings bei Buchhandschriften für den eigenen Gebrauch des Schreibers.
Darum bleibe ich also beim Begriff der Buchschrift, worunter ich eine formale Schrift
verstehe, die gelegentlich, wie dies übrigens auch heute noch der Fall ist, auch für
andere außergewöhnliche Zwecke verwendet wird. Diese formale Schrift der frühen
römischen Buchschriften ist seit alters als Majuskel qualifiziert und als Kapitale be¬
zeichnet worden. Dies ist ein alter paläographischer Fachausdruck, der damit zusam¬
menhängt, daß derartige Majuskelschriften im Mittelalter vor allem für die Kapitel¬
überschriften der Buchtexte verwendet wurden. Seine Bedeutung sollte also nicht auf
die Majuskelschriften der Inschriften ausgedehnt werden, sofern es sich allerdings
nicht um Kopien von Handschriftenschriften handelt. Anderseits sollte man ihn auch
nicht auf Schriften eines einzigen Typus beschränken, denn wir werden uns davon
überzeugen, daß es verschiedene Kapitalschriften gibt und daß wir sie gebührend zu
unterscheiden haben werden. Die Schrift, die wir nunmehr meinen, wird in allen Hand¬
büchern der Schriftwissenschaften mit der etwas kuriosen Bezeichnung ‘rustikale Ka¬
pitale’ präsentiert. Sie ist jene handschriftliche Form, die wir bereits in ihren epigra¬
phischen Modifikationen unter der Bezeichnung scriptura actuaría kennenlernten.
Wir haben auch schon festgestellt, daß sie eigentlich die in den gemalten und Stein¬
inschriften reproduzierte kalligraphische Vorlage war und dieser Prototyp, der von
Malion als KLASSISCHE KAPITALE bezeichnet wird, somit nicht aus seinen De¬
rivaten entstehen konnte. Aus der gleichzeitigen Existenz dieser klassischen Kapitale
und der klassischen Kursiv in den ältesten uns bekannten Papyri ergeben sich na¬
türlich auch Zweifel über die Richtigkeit der früher allgemeinen Vermutung, daß sich
eine dieser Schriften aus der anderen entwickelt hätte. Wahrscheinlicher ist vielmehr,
daß beide von einem gemeinsamen, bisher noch nicht verläßlich festgestellten Prototyp
abgeleitet sind. Was die Kapitale selbst betrifft, könnte man aus ihrer in den Hand¬
schriften vom Anfang der klassischen Periode schon so vollkommenen Form auf ihren
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