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stimmte Arbeit; erst viel später begann ich - aus pädagogischen Gründen - ihre even¬
tuelle Veröffentlichung ins Auge zu fassen. Und auch damals war sie nur jenen zuge¬
dacht, die mit der Schrift arbeiten oder die schöne Schrift schätzen. Doch diese
Begrenzung der Ziele bedeutete für mich keine Erleichterung, wenn ich alle grund¬
legenden Erkenntnisse verschiedener und zahlreicher Wissenschaftsfächer, die sich mit
der Schrift befassen, innerhalb der Grenzen meiner Möglichkeiten so gewissenhaft und
vollständig wie möglich zusammenfassen wollte. Eben diese Zusammenfassung, diese
Synthese fremder Teilerkenntnisse, so fundiert und verantwortlich sie sein möge, setzt
mich jedoch schon an sich dem Vorwurf aus, auf bequeme Weise aus vielen Büchern
eines fabriziert zu haben, was mich - nach dem geistreichen Gleichnis Rabindranath
Tagores - als bloßen Auffädler von Perlen auf den billigen Faden der Kompilation
qualifiziert. Ich gebe zu, daß die kleinen Kiesel der eigenen Beiträge, die gleichfalls
auf dem Faden dieses Perlenhalsbandes aufgereiht sind, neben den großartigen auf¬
gelesenen Perlen unscheinbar bleiben; doch die größte Schwierigkeit war nicht das
Auffädeln, sondern das Sammeln dieser Schätze. Denn ich mußte dabei einen wahren
Ozean an Fachliteratur der ganzen Welt durchsuchen, deren systematische Verfolgung
und völlige Beherrschung heute die Kräfte eines Einzelnen übersteigt.
Das ernsteste Problem meiner Arbeit war jedoch von Anfang an die verläßliche
genealogische und typologische Klassifizierung der einzelnen Schriftkategorien, ohne
die es völlig ausgeschlossen war, zu einer anschaulichen und einheitlich orientierten
systematischen Übersicht nicht nur des ganzen Stoffes, sondern auch der historischen
und stilbedingten Teilepochen der formalen Entwicklung der Lateinschrift zu gelangen.
Ich fand, daß von diesem Gesichtspunkt aus und vor allem mit Hinblick auf die be¬
sondere Zielsetzung meiner Arbeit auch die traditionelle epigraphische und paläo-
graphische Klassifizierung nicht ganz befriedigte, gar nicht zu reden von der unstabilen
und meist stark konfusen Klassifizierung der neuzeitlichen Schriften. So blieb nichts
anderes übrig, als in Fragen der Klassifizierung und Terminologie oft eine eigene
Lösung zu versuchen, indem ich mich bemühte, die Umrisse der einzelnen Klassen,
Gruppen und Untergruppen verschiedener Gattungen und Modifikationen der La¬
teinschrift der entsprechenden historischen Zeitabschnitte möglichst genau zu bestim¬
men. Was die Klassifizierung und Terminologie älterer Formen betrifft, beschränkte
ich mich meist auf die Anwendung einiger Grundsätze der modernen paläographischen
Klassifizierung, so wie ich ihnen in neueren Publikationen auf diesem Fachgebiet be-
gegnete. Weit selbständiger mußte ich jedoch bei der Klassifizierung der neuzeitlichen
Schriften seit dem 19. Jahrhundert vorgehen. Es ist interessant, daß zur gleichen Zeit,
als ich mich vor langen Jahren und einsam mit diesem Problem auseinandersetzte,
zahlreiche ausländische und oft viel berufenere Fachleute von derselben Unzufrieden¬
heit mit dem gegenwärtigen Stand der Klassifizierung und Terminologie in der Theorie
der Schrift erfüllt waren, und so geschah es, daß zu eben jenem Zeitpunkt, da sich
mein Buch im Druck befand, in verschiedenen schriftwissenschaftlichen Disziplinen
Arbeiten mit Reformvorschlägen verschiedener Art zu erscheinen begannen. Leider
bedeuten diese Verbesserungsvorschläge zum Großteil eher eine Komplikation, und
wenn einer davon eine einfachere Lösung empfiehlt, insbesondere im Bereich der mo¬
dernen Druckschriften, geschieht dies auf Kosten der notwendigen Präzision der Un¬
terscheidung und in der Regel im Verein mit der Propagierung einer ganz neuen,
meist viel zu radikalen und historisch unbegründeten Terminologie. Das Chaos der
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Klassifizierung und Terminologie vergrößert sich damit noch mehr, und es ist in¬
zwischen noch unwahrscheinlich, daß irgendeine dieser Reformen in absehbarer Zeit
allgemein akzeptiert würde. Darum konnte ich deren nur wenige für diese Ausgabe
verwenden, und die Gründe, weshalb ich dies tue, nenne ich jeweils an entsprechender
Stelle im Text.
In diesem Zusammenhang darf ich nicht vergessen, mich bei den deutschen Lesern,
die sich vielleicht nur ungern mit gewissen Abweichungen von der geläufigen deut¬
schen Terminologie der Druckpraxis zufrieden geben werden, zu entschuldigen. In
meiner Übersicht konnte ich jedoch nicht mit so vieldeutigen Begriffen operieren, wie
es beispielsweise die Bezeichnung Kursiv ist, unter der die Paläographen ganz andere
Schriften verstehen als die Setzer der Druckereien. Da meine Arbeit ja vorwiegend
die historischen lateinischen Inschriften und Schreibschriften behandelt, wären zahl¬
reiche Konfusionen die Folge, wenn ich von den Kursivschriften im paläographischen
Sinne nicht die neuzeitlichen und ebenso benannten, aber meist nur sehr wenig kur¬
siven Druckschriften unterscheiden würde. Ich habe dies durch die Verwendung der
ursprünglichen alten Bezeichnung Italika getan, die heute in der Fachliteratur der
Welt allgemein als Terminus für die kursiv geneigten Druckschriften dieser Kategorie
gebräuchlich ist. In anderen Fällen mußte ich mir sogar völlig neue Bezeichnungen
ausdenken. Das war beispielsweise bei der Klassifizierung der Akzidenzschriften mit
gespaltenen Serifen aus dem 19. Jahrhundert notwendig, denn diese Schriften werden
in der Regel mit den übrigen ornamentalen Druckschriften in die viel zu allgemeine
und undifferenzierte Gruppe der Zierschriften eingeordnet. In diesem Fall half ich
mir mit dem neugeschaffenen Namen Toscanienne aus, einer Applikation der ursprüng¬
lichen englischen Bezeichnung der ersten Akzidenzschriften dieser Art. Ich hoffe, daß
der Leser mir diese und ähnliche Neuschöpfungen und Abweichungen von der übli¬
chen Terminologie des Druck- und Schrifthandwerks, zu denen ich mangels anderer
Möglichkeiten Zuflucht nehmen mußte, verzeihen wird.
Zur Grundkonzeption des ganzen Buches kann nur wiederholt werden, was bereits
bei seiner ersten tschechischen Ausgabe einleitend gesagt wurde. Obwohl überall, wo
dies die Erläuterung eines konkreten Teilproblems einzelner Entwicklungsphasen der
Schrift erfordert, auch seine allgemein kulturellen und gesellschaftsgeschichtlichen
Beziehungen, Voraussetzungen und Bedeutung berücksichtigt werden, bleibt die schöne
Schrift und ihr künstlerischer und ästhetischer Aspekt immer im Vordergrund des
Interesses. Das soll jedoch keineswegs bedeuten, daß Schriften, die allgemein nicht
als schön gelten, etwa unberücksichtigt blieben oder daß dieses Buch anderseits eine
Ästhetik der Schrift festlegen wollte. Das Motiv seines Zustandekommens war keines¬
wegs das allzu gewagte Streben, diese Lücke im Schriftstudium durch den Versuch
einer Bestimmung grundlegender ästhetischer Normen auszufüllen, sondern, wie be¬
reits gesagt, nur der ästhetische Genuß, die Freude an den künstlerischen Werten der
schönen Schrift. Dem ästhetischen Aspekt der Schrift widmet die Fachliteratur der
Welt überhaupt, soviel mir bekannt ist, nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Zwei¬
fellos schon deshalb nicht, weil es schwer ist, sich hier über einheitliche Gesichtspunkte
und Methoden zu einigen und von einer Vielzahl Vorurteile freizumachen, denen wir
insbesondere im Bereich der neuzeitlichen Schriften auf Schritt und Tritt begegnen.
Es muß jedoch möglich sein, die schöne Schrift dennoch im scheinbaren Chaos der
zahllosen Formen, die die Entwicklung der Lateinschrift mit sich gebracht hat, zu
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