RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
der Handschriftenschriften ohne Zweifel von Anfang an vom Material und der Tech¬
nik des Schreibens abhängig. Es waren dies jedoch sehr verschiedene Stoffe, auf denen
die alten Römer schrieben, und mit der Schrift, in der dies geschah, befaßt sich die
lateinische Paläographie. Bekanntlich haben sich verschiedene Dokumente römischer
Handschriftenschriften in zahlreichen Stein- und Metallinschriften erhalten. Plinius
zufolge bediente man sich in älterer Zeit für die eigentlichen Schreibzwecke dünner
Bleifolien, die zu Rollen gewickelt wurden (plumbea volumina). Die Schrift wurde wahr¬
scheinlich auf ähnliche Weise eingekratzt wie in Wachstäfelchen (tabulae ceratae), deren
eine große Anzahl aus der Endphase der römischen Republik und aus der Kaiserzeit
erhalten ist. Es handelt sich um hölzerne Täfelchen, die mit einer dünnen Schicht
Wachs überzogen und oft mittels Lederriemen zu Paaren (diptycha, duplices) oder Dril¬
lingen (triptycha, tríplices) oder auch zu noch mehr verbundenen Stücken verknüpft sind
(poliptycha, multíplices). Man schrieb darauf mit einem beinernen oder metallenen Stift
(stilus, graphium), der am anderen Ende abgeflacht war, um zum Auslöschen fehler¬
hafter oder nicht mehr benötigter Texte zu dienen. Das wichtigste Schreibmaterial
war jedoch im alten Rom ebenso wie im altägyptischen und altgriechischen Schrifttum
der ägyptische Papyrus, auf dessen Einfuhr aus Ägypten die römischen Schreiber völlig
angewiesen waren. Merkwürdigerweise wurden Versuche einer Akklimatisierung der
Papyrusstaude (Cyperuspapyrus) erst im 13. Jahrhundert in Sizilien unternommen, also
zu einer Zeit, als der Papyrus längst nicht mehr der wichtigste Werkstoff für die Her¬
stellung von Büchern war. Papyrusblätter (plagula, pagina) wurden im Altertum aus
kreuzweise zusammengeklebten schmalen Streifen des Rohrstengels der Pflanze her¬
gestellt und der so entstandene Stoff (charta) nach dem Pressen, Trocknen und Glätten
zu 11 bis 30 cm breiten Streifen geschnitten. In den Handel kam der Papyrus in Rollen
(rotulus), die auch mehrere Meter lang sein konnten. Vor dem Schreiben wurden sie
nach Bedarf zerschnitten oder auch ganz belassen. Der Papyrus war allerdings noch
kein besonders vollendetes Schreibmaterial, denn er war ziemlich brüchig und ließ
sich nicht so glätten, daß man darauf ohne gewisse technische Schwierigkeiten schrei¬
ben konnte. Gegenüber dem Papyrus bedeutete ein weiteres Schreibmaterial der la¬
teinischen Paläographie, das Pergament (membrana), zweifellos einen großen Fort¬
schritt. Obwohl es schon um das 3. Jahrhundert v. Chr. in Vorderasien entdeckt
wurde, stammt die älteste lateinische Handschrift auf Pergament erst aus dem 1. Jahr¬
hundert unserer Zeitrechnung. Die Herstellung von Pergament aus Schafs-, Ziegen-
und Kalbshäuten war äußerst langwierig. Im Altertum kamen die bekanntesten Er¬
zeugnisse dieser Art aus der kleinasiatischen Stadt Pergamon, der die antiken Autoren
auch die Entdeckung dieses Schreibmaterials zuschrieben. Wenn das auch nicht zu¬
treffen mag, war Pergamon sicher ein Qualitätsbegriff, der sich später einlebte und
zur allgemeinen Bezeichnung wurde: membranapargamenea. Im Mittelalter wurde dies
als pergamenum, par camena, pergamentum u. ä. abgewandelt. Der Herstellungs- und Ver¬
kaufspreis des Pergaments war natürlich immer sehr hoch, weshalb man aus Ersparnis¬
gründen oft alte und bereits beschriebene Pergamentblätter verwendete, deren ur¬
sprüngliche und manchmal bedeutende Texte ganz oder teilweise abgeschliffen wurden
(Palimpseste). Beide erwähnten klassischen Materialien der lateinischen Paläographie,
der Papyrus und das Pergament, wurden später durch ein neues, unser heutiges Pa¬
pier, völlig verdrängt. Das Papier, eine chinesische Erfindung, die durch arabische
Vermittlung erst im 10. Jahrhundert nach Europa gelangte, wird hier seit dem 11.
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RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
Jahrhundert erzeugt. Darum kommt es für unser Studium vorläufig nicht in Betracht.
Schreibinstrument war im Altertum und Mittelalter die Feder, entweder die Rohr-
(calamus, canna) oder seit dem 4.-5. Jahrhundert auch die Kielfeder (penna). Je nach¬
dem, wie sie mit dem Federmesser (scalpellum, scalprum, cultellus) zugeschnitten wurde
(calamum temperare), hatten die Schriftzüge entweder eine uniforme oder wechselnde
Stärke im Kontrast der dünnen und dicken Striche. Die Art der Federhaltung und
die Lage der Feder zur Horizontalen der Textzeile war sodann bestimmend dafür,
welche Striche dünn oder dick gezogen wurden. Die Tinte (atramentum, encaustum, in-
caustum) stellte man in älterer Zeit aus Ruß und später aus Galläpfeln her. Neben
schwarzer Tinte wurde auch rote (rubrum, sacrum incaustum, minium, cenobium) verwen¬
det. In Luxushandschriften kamen auch andere Farben vor, Purpur, Blau u. ä., und
daneben Gold und Silber. Zum Linieren der Zeilen in den Buchhandschriften dienten
seit dem frühen Mittelalter bleierne Stifte (stilus plumb eus), mit denen man manchmal
auch Glossen und Marginalien schrieb (Friedrich, Semkowicz).
Die ältesten römischen Bücher hatten die Form von Rollen (volumen), die in der
Regel einseitig und nur ausnahmsweise beiderseitig (0pisto graph) beschrieben waren.
Es war dies eine sehr unhandliche Buchform; nichtsdestoweniger blieb sie bis ins
6. Jahrhundert in Gebrauch, allerdings nur als Ausnahme neben jener des Kodex, die
sich bereits eingelebt hatte. Diese heutige Form des Buches kommt zwar anfangs in
Gestalt gebündelter Wachstäfelchen vor, aber die auf Papyrus oder Pergament ge¬
schriebenen lateinischen Handschriften erhalten diese Form Martial zufolge erst im
letzten Drittel des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung (Mallon), was allerdings
einen viel früheren Zeitpunkt bedeutet, als die ältere paläographische Literatur vor¬
auszusetzen bereit war. Die wichtigsten Faktoren bei der Massenherstellung von Bü¬
chern waren die Schreiber oder richtiger die Kopisten. Im antiken Rom waren es
offenbar Unfreie, die in größeren Gemeinschaften die Handschrift des Autors ab¬
schrieben. Auf welche Weise sie dabei zuwege gingen, steht bisher nicht fest. Die ältere
Ansicht, daß sie nach Diktat alle den gleichen Text schrieben, wird heute nicht mehr
verfochten und durch die Annahme ersetzt, daß jeder Schreiber immer und immer
wieder einen kleinen Teil des Manuskripts abschrieb, der ihm zugeteilt worden war.
Im Frühmittelalter ging das gesamte Buchschaffen ausschließlich auf die Kloster¬
skriptorien über, wo entweder die Mönche selbst oder gedungene Schreiber die
Bücher abschrieben.
In ältester Zeit diente die archaische Lateinschrift, so wie wir sie hier kennengelernt
haben, zweifellos Anlässen jeder Art und allen Bedürfnissen des schriftlichen Aus¬
drucks. Erst als sich eine besondere monumentale Inschriftenform zu stabilisieren be¬
gann, entwickelte sich daneben wahrscheinlich eine spezielle Handschriftenschrift
für den Alltagsgebrauch und gleichzeitig vielleicht auch eine Schriftform für außer¬
ordentliche Vorhaben wie z. B. Buchhandschriften. In fast allen allgemein zugängli¬
chen paläographischen und Schrifthandbüchern wird diese erste Entwicklungsphase
der lateinischen Buchschrift (littera libraris, libraria) nach der alten und verbreiteten
paläographischen Theorie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts geschildert, als
unter den ältesten damals bekannten lateinischen Handschriften nur vereinzelte Pa¬
pyrusfragmente einer älteren Zeit als dem 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu¬
geordnet werden konnten. Auf diesen Mangel an älteren Denkmälern ist die über¬
mäßige Bedeutung zurückzuführen, die einigen späten literarischen Handschriften aus
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