RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
eine andeutungsweise Reproduktion der bloßen Konstruktion dieser Schrift unter Bei¬
gabe gewisser kursiver Elemente.
Wir hatten wiederholt Gelegenheit, von allem Anfang der Entwicklung der latei¬
nischen Inschriftenschrift den Einfluß der geläufigen gleichzeitigen Kursivschrift auf
das römische Monumental- und Dokumentarschriftschaffen festzustellen. Doch mit
der bloßen Feststellung dieses Einflusses ist das Interesse der lateinischen Epigraphie
für besagte Schriftkategorie noch nicht erschöpft. In den Bereich dieser wissenschaft¬
lichen Disziplin fallen nämlich auch zahlreiche Inschriften, die in Kursivschrift auf
Hauswänden, in Wachstäfelchen und verschiedenen anderen epigraphischen Ma¬
terialien eingeritzt oder niedergeschrieben waren. So hat die SCRIPTURA CURSIVA
in der epigraphischen Literatur einen sehr ehrenhaften Platz inne - als weitere be¬
deutsame Schriftform, die unmittelbar hinter der Monumental- und der Aktuarschrift
rangiert. Wir müssen hier jedoch von dieser Reihenfolge Abstand nehmen, denn die
Entwicklung einer ganzen Anzahl für uns außerordentlich wichtiger Schriften aus
dem Bereich der lateinischen Paläographie ist untrennbar verbunden mit der Ent¬
wicklung der lateinischen Kursivschriften, denen wir daher mit Rücksicht auf diesen
Zusammenhang an anderer Stelle besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Dort
werden wir natürhch nicht umhin können, einige wichtige Kursivformen, deren Do¬
kumentation allerdings die Heranziehung epigraphischer Denkmäler erfordern wird,
zu analysieren.
Die kursiven, in der Regel fast allzu flüchtig hingeworfenen Inschriften gehören
mit ihrem formalen Aspekt selbstverständlich zur niedersten Kategorie des römischen
Schriftschaffens. Sieteilen diese zweifelhafte Position mit allen möglichen epigraphi¬
schen Denkmälern, deren Schrift nicht anders zu qualifizieren war als durch die Be¬
zeichnung scriptura vulgaris. Es handelt sich hierbei insgesamt um grobe, nichtprofes¬
sionelle Kritzeleien, von ungeübten Händen in verschiedenen kunstlosen Schriftarten
auf verschiedenen Materialien ausgeführte Inschriften, in denen allerdings besonders
oft kursive Elemente überwiegen. Was den Stein betrifft, wurden derartige Inschriften
nicht nur ohne vorheriges Vorzeichnen der Buchstabenumrisse, sondern auch ohne
sichtbare Anzeichen einer Kenntnis irgendeiner graphischen Ordnung gemeißelt.
Manchmal wurden in den Hauptpunkten der Schriftzeichnung Löcher gebohrt und
dann mit groben Strichen und ohne jede Sorgfalt verbunden. Solche und ähnliche
Inschriften, vor allem von der Hand einfacher Soldaten in entlegenen Festungsgarni¬
sonen römischer Legionen, haben sich in beträchtlicher Zahl entlang der ausgedehnten
Grenzen des Imperiums erhalten, aber für unser speziell ausgerichtetes Studium sind
sie im großen und ganzen bedeutungslos. Die scriptura vulgaris und schließlich auch
die scriptura cursiva der Inschriften stehen an der Peripherie der schönen Inschriften¬
kunst, deren Größe somit eigentlich nur von den beiden Haupttypen - der Monu¬
mental- und der Aktuarschrift - getragen wurde.
Dieses im Grunde sehr bescheidene Schriftrepertoire der hauptberuflichen römi¬
schen Schriftkünstler erfuhr während des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung noch
eine zusätzliche Erweiterung durch eine Form, die zum ersten Mal in Inschriften aus
den afrikanischen Provinzen in Erscheinung tritt. Später, seit dem Ende des 4. Jahr¬
hunderts, kommt sie auch in anderen Gegenden des bereits zersplitterten und vor der
völligen Auflösung stehenden römischen Reiches vor. Diese späte Inschriftenform ist
168
І
ABCDE
FGHILM
NOPQR
STYX
95- Römische Dokumentärschrift, gemischte Form aus der Zeit des Severus.