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86. Römische Dokumentärschrift, gemalte Form mit vertikaler Schattenachse
aus der ^eit Trajans.
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SCRIPTURA ACTUARIA
in einer gewissen Hinsicht ist sie dennoch lehrreich, weil wir einer derartigen Locke¬
rung der Regeln des Sçhriftschaffens noch oft begegnen werden und dies keineswegs,
wie wii sehen werden, immer der ästhetischen Wirkung der graphischen Arbeit ab¬
träglich sein muß.
Zum Malen von Inschriften war jedoch nicht immer und nicht unbedingt ein Flach¬
pinsel erforderlich, und in dringenden Fällen kam auch der runde Pinsel zum Zuge.
Doch hier war es bei gleichmäßigem Druck natürlich nicht möglich, die Strichstärke
zu verändern. Das Ergebnis war eine weitere Modifikation der Dokumentarschrift
die malerische Form ohne Schattenachse. Diese Schrift kam jedoch nur bei flüchtig hinge¬
worfenen Inschriften in Betracht, denn meist war diese oder jene Schattenachse mehr
oder minder deutlich zu erkennen. Bei den undeutlich schattierten Schriften dieser
Art kann man manchmal auch eine offensichtliche Tendenz zur Modellierung der
Schriftzeichnung nach der Vertikalen feststellen. In der auf diese Weise nur unbe¬
stimmt modellierten malerischen Form mit vertikaler Schattenachje, wie sie beispielsweise
Hübners Alphabet ex picto exemplo’ aus der Zeit Trajans (Abb. 86) vorstellt, sind
alle Striche ungefähr gleich stark, aber sonst bleibt ihr allgemeiner Schriftcharakter
der auch alle vorhergehenden Varianten kennzeichnete, im Grunde erhalten. Eine
Ausnahme bilden vielleicht nur die Serifen, die mit ihrer Form mehr den steinernen
Prototypen verwandt sind, wozu der runde und spitze Pinsel sicher nicht wenig bei¬
getragen hat. Als Sonderfall sei hier der angedeutete Schaft des Buchstabens G und
der nach unten gewandte Querbalken des L genannt. Nur durch eine noch weniger
disziplinierte Schriftzeichnung unterscheidet sich vom eben genannten ein anderes
Alphabet Hübners aus der Zeit Konstantins, 324-337, was wir hier als Beweis dafür
erwähnen, wie lange diese Form in den römischen Inschriften vorkommt.
Der Einfluß, den die Schrift der Handschriften und gemalten Inschriften auf das
Schriftschaffen in Stein und Bronze ausübte, kam, wie wir bereits gesehen haben, vor
allem in der Übernahme des Prinzips einer Differenzierung in feine und starke Striche
als des letzten graphischen Entwicklungselements der römischen Monumentalschrift
zum Ausdruck. Es war dies sicher ein bedeutsamer formaler Gewinn, aber die Nach¬
ahmung der Schreibfeder- und Malerpinseltechnik durch den Meißel des Bildhauers
wurde noch weiter getrieben : von der Wiederholung weiterer Einzelheiten der Schrift¬
zeichnung bis zur vollständigen Reproduktion dieser ausgesprochen kalligraphischen
Schrift gemalter Inschriften. Das Ergebnis war dann notwendig eine Schrift technisch
unreinen Charakters, die stillos in einen anderen, in Material und Technik wesens¬
fremden Bereich des Schriftschaffens übertragen wurde. Würden wir puristisch an der
Unverletzbarkeit der technisch-stilistischen Autonomie dieser Kategorien festhalten,
so müßten wir die römische Dokumentarschrift der Stein- und Metallinschriften aller¬
dings mit Verachtung ablehnen. Wenn wir sie jedoch unvoreingenommen auf die
graphische Wirkung der besseren Beispiele hin ins Auge fassen, können wir nicht
umhin, ihr beachtliche ästhetische Werte zuzuerkennen. Die Lebhaftigkeit ihrer Schrift¬
zeichnung kommt in den kleinen Zeilen ausgedehnterer Texte, für die sie meist be¬
stimmt ist, wohltuend zur Geltung. Sie kontrastiert mit der mehr oder weniger strengen
Monumentalität der gewöhnlich viel größeren scriptura quadrata, in der die oberen
Titel’-Zeilen dieser Inschriften gemeißelt wurden. Das Nebeneinander dieser beiden
Schriftformen in ein und derselben Inschrift kam sehr häufig vor und beschränkte
sich nicht nur auf Inschriften dokumentarischer Natur, wie wir bereits bei einigen
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