RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
der Inschrift begegnen wir einer auf den ersten Blick andersgearteten Variante. Auch
wenn wir von der abweichenden Zeichnung des Buchstabens G, dem hoch emporge¬
zogenen Schaft des I und Bauch des D oder den kalligraphischen Krümmungen der
im Gegenteil tief hinuntergezogenen Schäfte des N und R absehen, können wir uns
nicht des Eindrucks erwehren, daß es sich hier um eine Schrift anderen Typus han¬
delt. Und so verhält es sich tatsächlich, denn die Schrift dieser beiden Zeilen ist eine
weitere Modifikation der römischen Dokumentarschrift, die malerische Form mit hori¬
zontaler Schattenachse. Ihre so deutlich sichtbare Andersartigkeit ist durch einen gering¬
fügigen Eingriff zustande gekommen: die bloße Vertikalstellung der Kante des Flach¬
pinsels. Das hatte zur Folge, daß alle Vertikalstriche fein und alle Horizontalen
wiederum fett sind. Die Wellenlinien der Serifen wurden zu schweren fetten Rechtecken
oder Quadraten, die allerdings oft mit einem summarischen Zug der Fläche des Pinsels
nur angedeutet werden. In einer einzigen Hinsicht war der Maler der Schrift dieser
Inschrift jedoch nicht ganz konsequent: bei den Buchstaben О und Q. Denn zum
Zweck ihrer Ausführung drehte er den Pinsel in die Querlage zur schrägen Schat¬
tenachse. Eine konsequente Vollendung dieser Form kann jedoch mit anderen Bei¬
spielen pompejanischer Inschriften belegt werden, die im IV. Band des Werkes Corpus
Inscriptionum Latinarum zusammengefaßt sind, oder mit auf Keramiken gemalten
Inschriften des Fundes vom Monte Testaccio in Rom, aus denen wir ein entsprechen¬
des Alphabet zusammengestellt haben (Abb. 82). Die malerische Form mit horizon¬
taler Schattenachse verschwindet allerdings nicht mit dem Untergang von Pompeji,
sondern sie bleibt in der Blütezeit der römischen Schriftkunst weiterhin in Gebrauch,
und daher könnten wir hier auch für diese Periode geeignete Schriften anführen. Doch
wir müssen uns auf ein einziges, nur in unwesentlichen Details abweichendes Alphabet
(Abb. 85) beschränken, das nach Hübner für die Zeit Hadrians (117-138) typisch ist.
Die Inkonsequenz in der Einhaltung der Schattenachse, wie wir sie bei der obener¬
wähnten Wahlinschrift feststellen konnten, erreichte manchmal einen solchen Grad,
daß man den Lagewechsel der Schattenachse vielmehr für absichtlich halten und
somit eine weitere Form der Dokumentarschrift, die malerische Form mit wechselnder
Schattenachse, in Betracht ziehen muß. Als Beispiel kann hier eine andere, leider nicht
besonders gut erhaltene pompejanische Wahlinschrift aus der Zeit vor 79 v. Chr.
dienen, in der ‘alle Obsthändler fordern’, daß ihr Kandidat gewählt werde (Abb.
84). Es scheint, daß die Obsthändler von Pompeji mit den Ausgaben für ihre Wahl¬
propaganda recht sparsam umgingen, indem sie sich an einen der nicht gerade besten
Schriftmalermeister wandten. Denn die Inschrift läßt zahlreiche Mängel erkennen,
und die Schriftzeichnung ist kaum irgendwo einheitlich. Wir finden beispielsweise
drei verschiedene Formen des Buchstabens M und zwei für das V vor. Die zweite
Form des letztgenannten Buchstabens beweist besonders deutlich die Neigung, Striche
und Winkelscheitel abzurunden, was sich auch beim I bemerkbar macht. In der
zweiten, kleineren Zeile wird es nämlich nicht mit einer Serife abgeschlossen, sondern
verlängert, und der schmäler gezeichnete Schaft mit leicht nach links gebogener Spitze
kündigt die Form des Buchstaben J an. Hinsichtlich der Schattenachse können wir
feststellen, daß sie einmal vertikal ist, wie bei den Buchstaben H und dem ersten О in
der ersten Zeile, ein andermal wieder schräg wie beim zweiten О derselben Zeile oder
horizontal wie beim С der zweiten Zeile. Die Uneinheitlichkeit der Schattenachse ist
in dieser Inschrift allerdings ein wenig übertrieben und wahrscheinlich ungewollt, aber
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85. Römische Dokumentarschrift, gemalte Form mit horizontaler Schattenachse
aus der fjeit Hadrians.
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