RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
sondern etwas tiefer mit dem scharfen Ansatz des gekrümmten Strichs. Der untere
Teil des Bauches geht beim В und D im Gegenteil in die Wellenlinie der Serife über.
Das Oval des Buchstabens С ist unten spitz und oben mit einem einseitigen, schräg
abwärts in die Rundung gerichteten Kopfstrich abgeschlossen. Alle Querbalken der
Buchstaben E und F weisen nach oben und haben spitze Enden ohne Serifen. Sie sind
gewöhnlich sehr kurz, fast ebenso lang oder nur um weniges länger als die untere
Serife des Buchstabens F, so daß der Unterschied zwischen ihm und dem E manchmal
verschwindet. Der senkrechte kurze Schaft des G wird aufgegeben und durch eine
spiralenförmige Krümmung des unteren Teils der Rundung in die Mitte der Schrift¬
zeichnung ersetzt. Der Querstrich im schmalen H wird oberhalb der optischen Mitte
angebracht, und die fetten Serifen sind gewöhnlich schräg aufgesetzt und greifen wie
beim Buchstaben I ziemlich weit über das Schriftbild hinaus. Die allgemein schmalen
Proportionen haben auch zu einer fühlbaren Aufrichtung der Schrägbalken des Buch¬
stabens M geführt. Ähnlich wie beim A pflegt der zweite und vierte Strich des M
jedoch nach innen gebogen zu sein. In diesem Fall ruht der erste Strich auf einer
beiderseitigen Serife, während der vierte mit einem sichelartigen Grat endet. Die
Scheitel beider oberen Winkel werden im Normalfall stumpf abgeschlossen oder mit
kleinen dicken Serifen versehen, während die untere Spitze des Winkels der beiden
inneren Striche scharf bleibt oder nur mäßig abgestumpft wird. Die fette Diagonale
des Buchstabens N wird in der Regel nach unten durchgebogen. Die Ovale der Buch¬
staben О und Q_werden selbstverständlich in der schrägen Achse verstärkt. Der Schweif
des Q,ist manchmal von überraschender Länge und kann sich in einer schönen Bogen¬
linie auch unter zwei rechts benachbarte Buchstaben hinziehen. Die Rundung des
kleinen offenen Bauches des Buchstabens P ist meist sehr kurz, ähnlich wie beim R,
dessen gekrümmter Schrägfuß mit einem nach oben gerichteten Grat endet. Das ent¬
spricht der Tendenz der meisten in der Diagonalen von oben nach rechts unten ver¬
laufenden freien Striche. Interessant ist die Zeichnung des Buchstabens T mit seinem
schrägen, zur Wellenlinie gebogenen Querbalken, der die übrigen Buchstaben der
Textzeile gewöhnlich in seiner ganzen Länge überragt. Beim V wird ein oder unter
Umständen beide Schenkel des Winkels der Schriftzeichnung und manchmal auch
die Spitze dieses Winkels abgerundet. Eine beiderseitige Serife pflegt nur auf den
rechten Schenkel aufgesetzt zu werden und ist auch dort oft durch einen rundkehligen,
nach links verbreiterten Strichansatz ersetzt. Der von links herabsteigende gebogene
Schrägbalken des Buchstabens X beginnt mit dem spitzen Schnabel des Strichansatzes
und endet auf gleiche Weise wie die übrigen eben erwähnten Diagonalen. Der zweite
Schrägbalken ist gerade und oben mit einem scharfschnabeligen Ansatz oder einer
Wellenlinie der beiderseitigen Serife versehen; mit einer solchen Serife endet dieser
Strich auch unten.
Die scriptura actuaría der gemalten Inschriften zeichnet sich im ganzen, und das
ist das Wichtigste, durch eine charakteristische kalligraphische Leichtigkeit des Vor¬
trags aus, die nicht nur für die graphische Wirkung, sondern auch für eine möglichst
schnelle schrifttechnische Ausführung (actuarius = beweglich, schnell) von Bedeu¬
tung war. Infolge der schnellen Pinselzüge gewann die Schrift eine Leichtigkeit und
besondere Freiheit der Form, die eine günstige Gelegenheit darstellte, individuelle
‘handschriftliche’ Abweichungen der Schriftzeichnung zur Geltung zu bringen, und
derartiger Abweichungen gab es natürlich eine immense Vielzahl. Dessenungeachtet
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SCRIPTURA ACTUARIA
kann man in der römischen gemalten Dokumentarschrift verschiedene gemeinsame
Merkmale feststellen und das vorhandene Material danach in mehrere Untergruppen
einteilen, deren erste und dem handschriftlichen Vorbild am nächsten stehende Va¬
riante, die malerische Form mit schräger Schattenachse, wir soeben kennengelernt
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83. Wahlinschrift aus der feit vor jg. Pompeji.
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84. Wahlinschrift aus der feit vor jg. Pompeji.
haben. Zu erwähnen bleibt nur noch ein Beispiel dieser Schrift aus der altrömischen
Schriftpraxis. Diesem Zweck entspricht ausgezeichnet eine pompejanische Wahlin¬
schrift aus der Zeit vor 79 unserer Zeitrechnung (Abb. 83). Die erste Zeile großer
Buchstaben, die auf interessante Weise ‘kursiv’ rückwärts geneigt sind, stellt ein be¬
sonders schönes Beispiel dieser Schriftform dar, aber in den beiden folgenden Zeilen
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