82. Römische Dokumentarschrift, gemalte Form mit horizontaler Schattenachse
aus der Zeit vor 7g.
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SCRIPTURA ACTUARIA
Einfluß der Monumentalschrift zeichnerisch viel zu weit von ihrem Prototyp entfernt,
als daß uns ihre Einordnung in die Kategorie der römischen Manuskriptschriften
nicht Schwierigkeiten bereitete. Wenngleich ich mit der Ansicht J. Malions über die
veraltete epigraphische Klassifizierung durchaus übereinstimme, bin ich dennoch der
Meinung, daß es mit Rücksicht auf die Zielrichtung unseres Studiums in diesem Fall
für uns vorteilhafter sein wird, bis auf weiteres an der traditionellen Klassifizierung
festzuhalten.
Die Inschriftenmodifikationen der handschriftlichen Kapitale sind auch bei den
gemalten Inschriften in der Form nicht einheitlich. Wenn wir von qualitativen Unter¬
schieden absehen, die von der Sorgfalt der schrifttechnischen Ausführung abhängen,
finden wir in diesen Inschriften gewisse Abweichungen des Duktus vor, die mit der
Technik der Pinselführung Zusammenhängen. Denn je nachdem, wie der Pinsel bei
der Arbeit gehalten wurde, war auch die Schattenverteilung der Schriftzeichnung
verschieden. Von diesem Gesichtspunkt aus kann die scriptura actuaría der gemalten
Inschriften in verschiedene Formen eingeteilt werden, deren erste, die malerische Form
mit schräger Schattenachse, die geläufigste gewesen zu sein scheint. Die Verteilung der
Schattenstriche befand sich in diesem Fall also ungefähr im Einklang mit jenen Re¬
geln, nach denen die scriptura quadrata in feine und starke Striche differenziert
wurde, wenn auch in unverhältnismäßig schärferem Kontrast, weil die Strichstärke
nicht nur durch die Breite des verwendeten Pinsels, sondern auch durch den auf diesen
Pinsel ausgeübten Druck betont oder abgeschwächt werden konnte. Im Alphabet einer
derartigen Schrift (Abb. 81) stellen wir jedoch leicht noch wesentlichere Abweichun¬
gen fest. Vor allem ist es das insgesamt schmälere Schriftbild, die Quadrate wurden
zu schmalen Rechtecken und die Kreise und Kreislinien zu Ellipsen oder Ovalen und
Segmenten. Auch die Form der Serifen, der Schreib- und Maltechnik eigentlich
fremder und aus den Steininschriften hierher nur übertragener Formen, unterscheidet
sich von der bisher beobachteten durch ihren ausgesprochen malerischen Charakter.
Die Serifen frei auslaufender vertikaler und leicht schräger Striche sind mit einer
kurzen fetten Wellenlinie ausgeführt. Die frei auslaufenden Horizontalen werden sämt¬
lich scharf und ohne Serifen abgeschlossen. Die Serifen schräger fetter Striche sind
oben durch einen gekrümmten Ansatz des Strichs in Gestalt eines spitzen Schnabels
und unten durch eine ähnliche Krümmung außerhalb des Schriftbildes ersetzt. Doch
auch sonst ist fast jeder Buchstabe des Dokumentaralphabets der gemalten Inschriften
durch seine zeichnerische Anpassung an eine andere Technik interessant. Darum
können wir nicht umhin, eine etwas ausführlichere Analyse vorzunehmen. Typisch
ist schon für den Buchstaben A die Schreibform mit scharf gewinkelten asymmetri¬
schen Schrägfüßen, deren erster in der Regel eine mit der fetten Wellenlinie einer
beiderseitigen Serife abgeschlossene Gerade ist, während der zweite sich in seiner
ganzen Länge leicht nach einwärts krümmt und mit einer Bogenlinie abgeschlossen
wird, die in eine aus dem Schriftbild hinausweisende scharfe Spitze mündet. Der
Querstrich wird gewöhnlich sehr hoch über der mittleren Höhe angesetzt und fällt oft
überhaupt fort. Die Kopfserife dieses Buchstabens ist meist einseitig und als bloßer
nach links ausgreifender Strichansatz gestaltet. Der obere Bauch des Buchstabens В
ist unverhältnismäßig kleiner als der untere, was der allgemein höheren Lage der
Mittelbalken und Ansatzpunkte der Querstriche und Rundungen am Schaft entspricht.
Die obere Partie der Bäuche des B, D, P und R beginnt nicht in der Horizontalen,
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