RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
berechtigt. Denn an ihrem Alphabet ist nichts auszusetzen (Abb. 62). Als Ganzes
zeigt es eine wahrhaft klassische Ordnung und in den Einzelheiten eine feinziselierte
und harmonische Zeichnung. Vor allem sei jedoch die Art hervorgehoben, wie die
Scheitel der Buchstaben А, M und N zugeschnitten sind. Mit dieser Maßnahme wird
im Kopf der Textzeile die Horizontale des Majuskelsystems betont.
Als schönstes Beispiel der hochentwickelten römischen Monumentalschrift und der
römischen Schriftkunst überhaupt wird in fast allen Schrifthandbüchern seit der Zeit
Edward Johnstons die Inschrift auf der Basis der Trajanssäule in Rom aus dem Jahre
113 n. Chr. (Tafel XV) bezeichnet. Es ist dies in der Tat eine Inschrift von ungewöhn¬
licher Schönheit, und die höchsten Ehren gebühren ihr durchaus zu Recht, obwohl
zu bemerken wäre, daß sie keineswegs so vereinzelt dasteht. Wir haben uns übrigens
anhand mehrerer hier angeführter Beispiele davon überzeugen können, und die in
einer nicht minder schönen scriptura quadrata mit spitzen Scheiteln ausgeführten zahl¬
reichen und oft sogar älteren Inschriften aus der Zeit Trajans beweisen es. Denn das
Alphabet, das wir aus einigen derartigen Inschriften zusammengestellt haben (Abb.
65), vor allem aus jener auf einer großen Marmortafel aus der Zeit um das Jahr 100,
die an der Stelle der einstigen Porta Capena in Rom gefunden wurde, verdient doch
ganz offensichtlich dieselbe begeisterte Wertschätzung und eine Analyse von eben¬
solcher Sorgfalt. Nutzen wir indessen jedoch die Gelegenheit, um ein wenig bei der
Inschrift der Trajanssäule zu verweilen und genauer festzustellen, wie die Schrift und
graphische Gestaltung des so gepriesenen Vorbilds aus bester Zeit beschaffen ist. Die
Inschrift wurde in eine Steinplatte von 275 X 115 cm im Querformat gemeißelt und
die Schrift füllt diese Fläche bis auf die etwa 10 cm breiten Ränder ganz aus. Auf den
ersten Blick stellen wir die ungleiche Höhe der sechs Inschriftzeilen fest. Sie nimmt
Zeile um Zeile von oben nach unten ab, denn die erste Zeile ist 11,5 cm, die letzte
9,75 cm hoch, und auch der Zeilenabstand verkleinert sich von 7,5 cm auf 7 cm. Eine
derartige Abnahme der Schrifthöhe von oben nach unten kommt, wie wir bereits
gesehen haben, sehr oft vor und scheint entweder durch die größere Bedeutung des
Textes in den ersten Zeilen oder durch den größeren Abstand der oberen Zeilen vom
Leser der Inschrift motiviert zu sein. Der Wahrheit näher sind wahrscheinlich ästhe¬
tische Gründe, die den Schriftkünstler dazu führten, die Inschrift mit der Dominante
größerer Formen zu versehen. Alle Buchstaben, aus denen die mit dreieckigen Trenn¬
zeichen voneinander geschiedenen Worte zusammengesetzt sind, wurden offenbar
ohne Schablonen vorgezeichnet oder -gemalt, denn sie lassen deutliche, aber für die
Gesamtwirkung günstige Abweichungen der Schriftzeichnung erkennen. Diese ist bei
aller Einheitlichkeit und Monumentalität ihrer Ordnung lebendig und frei von der
Kälte mechanischer Reproduktion. Das Strichstärkenverhältnis beträgt etwa 1:2, den
Buchstaben N, bei dem alle Striche nahezu gleich stark sind, ausgenommen. Die ins¬
gesamt kleinen Serifen haben ziemlich stark gekrümmte Kehlungen und eine leicht
eingedrückte Basis. Die Buchstaben C, D, G, M, N, О und Q^sind nur um ein weniges
schmäler als ihre Höhe. Um etwa ein Sechstel schmäler sind die Buchstaben A, R, T
und V. Die Breite des P beträgt etwa die Hälfte seiner Höhe, die des В und X etwas
mehr und die der Buchstaben L und S etwas weniger. Beim E und F sind es ungefähr
drei Siebentel der Schrifthöhe. Die Oberpartien der Rundungen des C, G und D sind
fast zu Horizontalen begradigt. Die mittleren Querstriche der Buchstaben E und F
werden nur unwesentlich kürzer gestaltet als die oberen. Der Querbalken des L wird
130
ABCD
EFGHI
LMNO
PORST
VXYZ
65. Römische Monumentalschrift, klassische Form aus der feit Trajans.