RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
bzw. graphischer Elemente, der Vertikale des Pfeilers oder Schaftes, der Horizontale
des Gebälks oder des Querbalkens, der Wölbung oder der Rundung auf.
Von einem Einfluß der Schrift auf die Entstehung der Architekturformen zu spre¬
chen wäre allzu gewagt; anderseits können wir durchaus berechtigt von einer Archi¬
tektur der Schriftkonstruktion und des formalen Aufbaus des klassischen römischen
Monumentalalphabets sprechen. Führen wir uns also zunächst einmal einige allge¬
meine Merkmale seiner architektonischen Ordnung vor Augen. Das Hauptmerkmal
ist, wie bereits gesagt, seine quadratische Konstruktion. Darum wollen wir das Ver¬
hältnis der einzelnen Buchstaben des Alphabets zu diesem grundlegenden Komposi-
tions- und Proportionsschema vergleichen. Wenn wir davon ausgehen, können wir die
Buchstaben der klassischen römischen Monumentalschrift in zwei Gruppen einteilen :
die der breiten Buchstaben, die die ganze Fläche eines Quadrats ausfüllen, und die
Gruppe der schmalen Buchstaben, die nur einen Teil dieses Quadrats beanspruchen.
Das ganze Alphabet zerfällt somit in zwei mehr oder weniger gleiche Hälften. Denn
eine Mehrzahl von zwei Buchstaben in der Gruppe der breiten Lettern ist kaum
genug, um den quadratischen Charakter zu untermauern, und zudem besteht die
Gruppe zur Hälfte aus runden Buchstaben. Von diesen füllt vor allem das О fast das
ganze Quadrat aus. Ähnlich geformt sind der Buchstabe Qund - ein wenig schmäler -
das C, G und D. Von den eckigen Buchstaben der ersten Gruppe nimmt vor allem
das M die ganze Fläche des Quadrats und oft auch mehr ein, während die übri¬
gen - das A, H, N, T, V und X gewöhnlich etwas schmäler sind. Die Buchstaben B,
E, F, L, P und S aus der Gruppe der schmalen Lettern füllen in der Regel etwa die
Hälfte eines Quadrats und das R etwas mehr aus. Das I ist natürlich der schmälste
Buchstabe der ganzen Gruppe.
Für das klassische römische Monumentalalphabet allgemein verbindlich sind weiter
jene Grundsätze, nach denen sich der Gegensatz der feinen und der starken Striche
der Schriftzeichnung richtet. Diese Art der graphischen Gestaltung der Schriftkon¬
struktion ist, wie bereits gesagt, zweifellos von der Schreiberpraxis abgeleitet und damit
zugleich von der Technik der Pinselmalerei. Denn der nach oben geführte Pinsel
zeichnete einen verhältnismäßig dünneren Strich als der abwärts geführte, auf dem
natürlich der stärkere Druck lastete. Der unterschiedliche Druck an sich würde sicher
ausreichen, um einen verschieden starken Strich Zustandekommen zu lassen, aber den
Kontrast unterstützte wahrscheinlich noch die Verwendung eines flachen Pinsels, der
so gehalten wurde, daß er diagonal nach rechts oben wies. Daraus folgt als erster
Grundsatz, daß alle in dieser Diagonalrichtung schräg von unten nach oben ver¬
laufenden Striche dünn und alle in entgegengesetzter Richtung geführten stark sind.
So bei den Buchstaben A, M, N, V und X. Die einzige Ausnahme aus dieser Regel
bildet das in den lateinischen Inschriften übrigens äußerst selten vorkommende Z,
das sowohl heute als auch in den jüngeren römischen Inschriften einen von rechts
oben nach links unten verlaufenden Schattenstrich aufweist, vielleicht um diesen Buch¬
staben nicht überhaupt des Gegensatzes der feinen und starken Striche zu berauben.
Denn nach dem weiteren, zweiten Prinzip sind alle horizontalen Striche ausnahmslos
dünn. Es gibt jedoch Inschriften - und gerade solche aus der besten Zeit -, die den
Buchstaben Z mit dicken Horizontalen und einer dünnen Diagonale zeigen, was also
wiederum eine Ausnahme aus dieser zweiten Regel darstellt. Der dritte Grundsatz
sodann besagt, daß alle Vertikalen Schattenstriche sind, mit Ausnahme des N, das
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SCRIPTURA MONUMENTALIS
sonst, im Gegensatz zum Z, nur fette Striche aufwiese, was hier und dort auch bei den
schönsten Inschriften Vorkommen mag. Warum nicht vielmehr die Schäfte des Buch¬
stabens N anstelle seiner Diagonale verstärkt wurden, kann auch aus seiner archai¬
schen Form erklärt werden. Denn hier waren ursprünglich alle Striche schräg, und
es ist also möglich, daß die Vorstellung der Schäfte dieses Buchstabens als schräg nach
rechts oben verlaufender Striche, die den Schattenstrich ausschließen, bis in die klas¬
sische Zeit lebendig blieb. Ähnlich verhielt es sich weit später im Fall des Buchstabens
M mit senkrechten Schäften, deren erster gegen die Regel stets dünn ist, weil er eine
Analogie der schrägen Schäfte der klassischen Form dieses Buchstabens darstellt, die
selbstverständlich keinerlei Ausnahme von der Regel benötigte. Die Umrisse der fetten
Striche wurden in den klassischen Inschriften kaum je zur geistlos geometrischen Uni¬
formität gezwungen. Gewöhnlich belebt sie eine leichte beiderseitige Verengung in
oder unter der Mitte der Schrifthöhe. Nach dem vierten Grundsatz schließlich wurden
die Krümmungen der Rundbuchstaben nach einer nach links geneigten Achse ver¬
stärkt. Darum war das О gewöhnlich links unten und rechts oben am stärksten.
Ähnlich verhielt es sich sowohl bei den Buchstaben C, G und Q als auch bei den Bäu¬
chen des B, D, P und R und beim Schlangenstrich des S.
Die Serifen waren in der römischen Monumentalschrift, wie hier bereits bemerkt
wurde, keine dekorativen Anhängsel, sondern ein organischer Bestandteil der Schrift¬
zeichnung. Sie verhalfen ihr zu einer stärkeren Geschlossenheit und Stabilität der
einzelnen Buchstaben und trugen zur Ruhe und Ausgeglichenheit der ganzen Text¬
zeile bei. Was ihre Form betrifft, waren die Serifen des klassischen römischen In¬
schriftenalphabets niemals mechanisch stereotyp; nahezu jeder Strich brachte seinen
individuellen Abschluß hervor, der nie bei einem Strich anderer Art verwendet wurde.
So endeten die freien senkrechten Schäfte gewöhnlich mit stumpfen Serifen in der
Form gleichseitiger Dreiecke, deren Basis allerdings oft in eine mehr oder weniger
scharfe Spitze auslief. Die Serifen schräger Striche wurden in der Regel an der Außen¬
seite des Schriftbildes schärfer und länger gezeichnet. Wo ein senkrechter Schaft oben
oder unten eine Horizontale oder eine Bogenlinie berührte, wie bei den Buchstaben
B, D, E, F, L, P und R, wandte sich die Serife häufig nach oben oder nach unten, um
gleichzeitig den Querbalken leicht im Gegensinn zu verbiegen. Die Serifen der oberen
Querbalken des E und F verlängerten sich nach unten zu einem gekrümmten, oft
ziemlich langen Schnabel. Dasselbe ist manchmal auch beim mittleren Querstrich
des Buchstabens E der Fall, und in der Regel bei den unteren Querstrichen des E und
des L in entgegengesetzter Richtung, ähnlich wie bei der unteren Ausbauchung des S.
Die Querbalkenserifen des Buchstabens T werden oft infolge der Krümmung des
Querbalkens nach oben über die Kopfhöhe gehoben. Die Scheitel der Buchstaben A,
M und N werden in der klassischen Form mit stumpfen Scheiteln meist nur mit ein¬
seitigen, nach links gerichteten und verhältnismäßig kurzen Serifen versehen. Die
unteren Winkel bleiben bei den Buchstaben M, N und V immer spitz und frei von
Serifen.
Obwohl manchmal - vor allem bei den frühen Inschriften der augustäischen
Epoche - der Schrägfuß des Buchstabens R mit einer beider- oder öfter mit einer
einseitigen, vom Schriftbild nach rechts gerichteten Serife versehen wird, endet dieser
Strich meist mit einer Krümmung und Verengung zu einer ziemlich scharfen Spitze.
Nach außen in scharf zugespitzte Krümmungen werden meist auch die oberen Schen-
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