RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
und der technischen Ausführung vermittelte. Dieser Künstler-Graphiker - der Ordi-
nator - wählte für seine Komposition auch die entsprechende Schrift, die, wie wir
noch sehen werden, nicht unbedingt die klassische Monumentalschrift sein mußte.
Dann zog er auf dem geglätteten Stein die Zeilen, entweder mittels einer in Zinnober
getauchten Schnur oder indem er nach dem Lineal feine Rillen einritzte, wie man es
z. B. auf unseren Bildtafeln XI und XVI feststellen kann. Von der Sorgfalt, mit der der
Ordinator die nächste Phase seiner Arbeit - das Vorzeichnen oder Vormalen der Buch¬
staben in dieses Liniensystem - ausführte, hing dann die Exaktheit der Schriftzeich¬
nung ab, die oft nicht immer unangenehme Abweichungen im Sinne der spezifischen
Handschrift des Künstlers zeigt. Die außergewöhnliche Genauigkeit der Schriftzeich¬
nung einiger schöner Steininschriften aus der Kaiserzeit kann nur damit erklärt wer¬
den, daß die Buchstaben nach vorbereiteten Schablonen einzeln in das Liniensystem
eingezeichnet oder kopiert wurden. Erst danach meißelte man sie (scalpere, sculpere
oder insculpere) mittels Hammer und Meißel (scalprum) in den Stein. Die so einge¬
grabene Rinne des Strichs hatte nie ein rundes oder rechteckiges Profil, sondern stets
ein scharf gewinkeltes in der Form des Buchstabens V. Die gemeißelten Lettern wurden
manchmal noch mit Zinnober oder Blei ausgefüllt. Größere Monumentalinschriften
setzte man gegebenenfalls auch aus Bronze- oder Bleibuchstaben zusammen, die mit
Hilfe von Nieten in der steinernen Unterlage befestigt wurden. Die zu diesem Zweck
gebohrten Löcher sind oft das Einzige, was von derartigen Inschriften übrig ist, und
nach ihrer Lage kann die Inschrift meist entziffert werden, wie z. B. auf dem römischen
Tempel in Assisi. Inschriften auf Bronzetafeln führte ein Ziseleur (caelator oder aera-
rius) aus, indem er die Buchstaben einritzte oder einschnitt {incidere), was sicher sehr
beschwerlich gewesen wäre, wenn es sich nicht meist um kleinere Inschriften gehandelt
hätte. Bei größeren und wichtigeren Bronzeinschriften wurden die eingeschnittenen
Buchstaben im Interesse der Lesbarkeit oft noch mit weißem Metall ausgefüllt. Leich¬
ter war die Anbringung von Inschriften auf Hauswänden {graffiti), wobei diese mit
einer stärkeren Reißnadel (graphium) in den frischen Verputz eingeritzt wurden, bevor
er erhärtete. Außerdem gab es noch eine ganze Reihe von Materialien und Methoden
zur Ausführung von Inschriften, z. B. das Einpressen mit Hilfe von Stanzen auf kera¬
mischen Erzeugnissen, Gold- und Metallplättchen, auf Werkzeugen und anderen
Gegenständen, aber das alles blieb ohne größeren Einfluß auf die Entwicklung der
Lateinschrift, der vor allem die scriptura monumentalis in Stein die Richtung wies.
Während wir das erste augustäische Alphabet der Hübnerschen Exempla nur durch
einige kleinere und hinsichtlich der Schrift nicht besonders bemerkenswerte Inschriften
belegen können, ist unser nächstes Alphabet aus der Zeit des Augustus (Abb. 44) be¬
reits eine Schrift bedeutender Inschriftendenkmäler, wie z. B. jenes aus dem Jahre
10 v. Chr. auf einem Obelisken, der ursprünglich den Circus Maximus schmückte und
heute auf der Piazza del Popolo in Rom steht (Abb. 45). Welch ein großartiger und
sprunghafter Fortschritt ist dies im Vergleich mit all unseren vorhergehenden Bei¬
spielen römischer Schriftkunst! Und dabei haben wir uns bei der Auswahl noch von
der besonderen Rücksicht auf die Qualität der Ausführung leiten lassen, wo das nur
möglich war. Wie meisterhaft und wirklich monumental ist hier der Text ausgewogen
worden, um, in ungleich hohen, nach unten jeweils schmäleren Zeilen untergebracht,
Buchstaben zu verwenden, denen auf den ersten Blick kaum noch etwas zur absoluten
Vollkommenheit fehlt. Wenn die Schriftzeichnung bei allen Buchstaben auch nicht
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SCRIPTURA MONUMENTALIS
immer einheitlich ist, stellt das aus ihnen zusammengesetzte Alphabet ein schönes
Beispiel der voll entfalteten Quadrata jener Zeit dar, einer Schrift, die ein sehr ge¬
mäßigter Strichstärkenwechsel in einer bereits völlig konsolidierten Ordnung und
der dreieckige Anlauf der stumpfen Serifen kennzeichnet. Was das Alphabet dieser
OLIDONVM
45. Inschrift auf dem Augustus-Obelisk aus dem Jahre 10 v. Chr. Rom.
Schrift jedoch besonders bemerkenswert macht, ist der stumpfe Scheitelabschluß der
Buchstaben A, M und N. Dieser graphisch sehr bedeutenden Tatsache wegen muß
dieser Typ der monumentalen Lateinschrift als klassische Form mit stumpfen Scheiteln
klassifiziert werden. Die Abstumpfung erfolgte in diesem Fall durch eine einseitige
Serife, die beim Buchstaben A nur unwesentlich und bei den Buchstaben M und N
noch weniger nach links ausbiegt. Anderswo, z. B. bei zweitem Ades Fragments einer
sehr schönen Inschrift aus Pompeji ungefähr aus dem Jahre 2 v. Chr., die sich in den
Sammlungen des Museums von Neapel befindet (Abb. 46), ist der Scheitel durch bloße
Beschneidung abgestumpft. In der zuvor erwähnten Inschrift auf dem römischen Obe¬
lisken wurde das Prinzip der Abstumpfung der Scheitel jedoch nicht immer konsequent
eingehalten, weshalb wir dort den drei besprochenen Buchstaben auch in der für die
klassische Form mit scharfen Scheiteln typischen Gestalt begegnen. Für die Zeit des Au¬
gustus repräsentiert diese Form eine prachtvolle Schrift, die Hübner als aetatis Au-
gustae elegantissimum’ qualifiziert. Es handelt sich um eine bereits wirklich vollendete