RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
Ein schönes Beispiel dieser Entwicklungsphase des römischen Schriftschaffens im
i. Jahrhundert v. Chr. ist die Inschrift des C. Vulius aus Pompeji um 72 (Tafel Xa).
Sie sticht durch ihre ausgezeichnete Gesamtordnung hervor, obwohl man in den Ein¬
zelheiten sicher manches daran aussetzen könnte. Bemerkenswert ist hier neben den
39. Römische Inschrift, Pompeji, etwa vor 44 v. Chr.
40. Inschrift zum Andenken Vespasians. Rom, nach 203 n. Chr. Detail. minimalen Zeilenabständen vor allem die Zeichnung des Buchstabens Q,, dessen spitz 102 SCRIPTURA MONUMENTAL IS zeigt, denn sie könnte sonst sicher als außerordentlich anschauliches Beispiel einer Das griechische monumentale Schriftschaffen zeichnete sich auch in seiner Blütezeit Konstruktion beschränkt hatte. Der Rhythmus der dünnen und dicken Striche fand in die Schrift der Monumental¬ Soweit das uns zugängliche epigraphische Material ein Urteil zuläßt, scheinen die 103
zulaufender Schweif sich unter den benachbarten Buchstaben hinzieht. Ein außer¬
ordentlich schönes Beispiel der Übergangsform mit ungewöhnlich scharfen Anlauf der
Serifen und stumpfen Scheiteln ist die Grabinschrift des Freigelassenen L. Caltilius aus
Pompeji (Abb. 39). Vor 44 v. Chr. entstanden, besticht sie durch den Kontrast zwi¬
schen der Schmalheit des L,T,S und der vollen Kreislinie des O. Alle diese Buchstaben
sind mit gleichbleibender Strichstärke der Grundkonstruktion gezeichnet, nur das S
mit seiner gegen die Serifen hin leicht verjüngten Linie bildet hier eine Ausnahme.
Einzigartig - wenigstens für diese Zeit - ist sodann meines Erachtens die Zeichnung
des Buchstabens С in Gestalt eines geometrisch exakten Halbkreises, dem wir übrigens
in der Komposition zusammen mit den anderen Buchstaben dieser Inschrift einen
gewissen Reiz nicht absprechen können. Obwohl im römischen Schriftschaffen seit der
Zeit des Augustus weitere formale Modifikationen der römischen Monumentalschrift
ein entscheidendes Übergewicht gewinnen, begegnen wir doch in den Inschriften auch
aus der klassischen Periode der Kaiserzeit einer Schrift, die wir als Übergangsform mit
entwickelten Serifen einstufen können. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Inschrift
auf dem Saturntempel aus den Jahren 117-161 (Hübner, Exempla, 469) oder auf die
Inschrift zum Gedenken Kaiser Vespasians aus der Zeit nach dem Jahre 203 als be¬
sonders ausgeprägte Schriftzeichnung dieser Art. Schade ist nur, daß Hübner in seinen
Exempla Scripturae Epigraphicae Latinae so wenig von dieser Inschrift (Abb. 40)
Schrift dieses Typus dienen. Schließlich können wir, wenn wir zu den epigraphischen
Denkmälern außerhalb des eigentlichen Bereichs des monumentalen Schriftschaffens
in Stein greifen, weitere interessante Modifikationen dieser Form feststellen, von denen
beispielsweise eine schöne fette Variante aus einer in Cora (Latium) gefundenen un¬
datierten Mosaikinschrift genannt sei (Tafel Xb).
durch eine außerordentliche und typische Enthaltsamkeit bei der graphischen Ge¬
staltung der Schriftzeichnung aus, die sich lediglich auf die vollendete Feinziselierung
der reinen Schriftkonstruktion und gegebenenfalls auf die Hinzufügung von Serifen
als einzige formale Bereicherung beschränkte. Demgegenüber gesellt sich in der klas¬
sischen römischen Inschriftenschrift zu den Serifen ein weiteres charakteristisches und
in Zukunft fast untrennbares graphisches Element in Gestalt einer stabilisierten Auf¬
gliederung der Schriftzeichnung in dünne und dicke Striche. Die ersten vielmehr zu¬
fälligen Anzeichen einer Entwicklung zu dieser Ordnung machen sich schon bei
einigen Inschriften aus älterer Zeit bemerkbar, zum Beispiel einem weiteren Epitaph
vom Grabmal der Scipionen, dem Elogium des Publius Cornelius P. f. Scipio, ohne
Zweifel des Sohnes des Scipio Africanus d. Ä. (Tafel XI). Dieses Denkmal aus der
Zeit nach 180 v. Chr. ist zudem auch dadurch interessant, daß sich hier aus so alter
Zeit die Ausführungsart einer Inschrift in Gestalt vorgezogener Linien des Majuskel¬
systems erhalten hat. Übrigens ist diese Arbeitsweise trotz der genannten Maßnahme
mit keiner besonderen Sorgfalt eingehalten worden. Was uns jedoch in erster Linie
fesselt, ist die Tatsache, daß hier von der grundsätzlich uniformen Strichbreite Ab¬
stand genommen wurde. Denn gewisse Striche sind schwächer, während andere zwar
mit Maß, aber dennoch deutlich verstärkt wurden. Doch in dieser Hinsicht herrscht
hier noch keinerlei stabilisierte Ordnung, wie wir sie in Kürze bei jüngeren Inschriften
kennenlernen werden. Dieselben Striche des gleichen Buchstabens sind einmal schwä¬
cher und ein andermal stärker, aber das beweist nur, daß in der monumentalen La¬
teinschrift um diese Zeit, d. h. etwa in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.,
die ersten Anzeichen einer neuen formalen Gestaltung und Bereicherung der Schrift¬
zeichnung auftraten, während sie sich bis dahin auf den uniformen Strich der reinen
inschriften auf ähnliche Weise Eingang wie in jene der gemalten Inschriften, denen
wir später besondere Aufmerksamkeit widmen werden : durch Nachahmung der Schreib¬
technik. Der Schriftkünstler, der die graphische Komposition der Inschrift entwarf
und zwischen dem Textautor und dem Steinmetz vermittelte, bediente sich zum Vor¬
malen der Schrift eines flach zugeschnittenen Pinsels, also eines Instruments, das der
breit zugeschnittenen Schreibfeder ähnelte. Wenn die Schnittkante dieses oder jenes
Instruments schräg zur Zeilenhorizontalen verlief, waren die in der Richtung dieser
Kante gezogenen Striche — also von links unten nach rechts oben — die dünnsten,
während die im Gegensinne gezogenen die stärksten waren. Bei Inschriften in Stein
wurde dieser Grundsatz in der Regel nicht ganz folgerichtig eingehalten. Wo es gra¬
phische Rücksichten erforderten, nahm man gewisse nützliche Korrekturen vor, aber
auf diese Einzelheiten wollen wir noch zurückkommen.