RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
was kaum glaubhaft scheint -, oder sind die Inschriften seit seiner Zeit im Stil der
klassischen Form der römischen Monumentalschrift umgemeißelt worden.
Die in der reinen Grundform der römischen Monumentalschrift ausgeführten In¬
schriften verschwinden auch nach der Mitte des i. Jahrhunderts v. Chr., da in den
römischen Inschriften bereits weitere Entwicklungsformen zu überwiegen beginnen,
nicht ganz von der Bildfläche. Es scheint jedoch, daß der Gebrauch dieser strengen
Schriftform sich mit der Zeit immer mehr auf anspruchslose Aufgaben beschränkte,
wenigstens soweit es sich um Inschriften in Stein handelt. In den letzten Jahren der
Republik können wir zwar noch einige Beispiele einer Anwendung der Grundform
in Inschriften monumentalen Charakters feststellen, aber in der römischen Kaiserzeit
wird diese Schriftform anscheinend nur noch für nichtprofessionelle Inschriften, vor
allem in den Provinzen, verwendet. In diesen Fällen handelt es sich allerdings nicht
mehr um musterhafte Beispiele dieser Grundform, sondern vielmehr um deren primi¬
tive Abarten. Die reine, im charakteristischen Rhythmus der Proportionen sowohl
einzelner Buchstaben für sich allein als auch des gesamten Alphabets völlig ausgereifte
monumentale Grundform des i. Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 34) ist in den besseren
Inschriften insgesamt bereits die verhüllte Konstruktion eines graphischen Aufbaus
höherer Ordnung. Mit dem allgemeinen Verfall der römischen Schriftkunst am Ende
und nach der Auflösung des römischen Imperiums mußte natürlich auch die monu¬
mentale Grundform degenerieren. Doch sie wurde noch lange - bis ins Mittelalter -
für kurze und auch längere lateinische Inschriften verwendet. Im Laufe dieser Zeit
erlitten fast alle Buchstaben des Alphabets Einbußen, indem ihre Zeichnung Deforma¬
tionen der Konstruktion unterlag, die das monumentale Schriftschaffen auf jenes
Niveau zurücksinken ließen, von dem es mehrere Jahrhunderte zuvor ausgegangen war.
Die ersten Anzeichen eines Strebens nach graphischer Bereicherung der reinen
Grundkonstruktion, deren Entwicklung wir bisher alle Aufmerksamkeit zuwandten,
können wir bereits lange vorher bei den ältesten Denkmälern der römischen Monu¬
mentalschrift feststellen, beispielsweise in den Grabinschriften von Praeneste aus der
Zeit um 250-150 v. Chr. Bei vielen Inschriften dieser Gruppe (Tafel III) lenkt die
Art und Weise, wie die einzelnen frei auslaufenden Striche der Schriftzeichnung ab¬
geschlossen werden, unsere Aufmerksamkeit auf sich. In der Grundform der monu¬
mentalen Lateinschrift geschah dies durch die einfache Unterbrechung der in ihrer
ganzen Länge bis zum Ende ungefähr gleich starken Linie. Nunmehr werden jedoch
derartige frei auslaufende Striche, wenn auch noch nicht konsequent, durch neue
graphische Elemente abgeschlossen: die Serif en (cornua) oder Endstriche, die ihre
Entstehung zweifellos der Technik und den Werkzeugen der bildhauerischen Bearbei¬
tung der Steininschriften verdanken. Der Steinmetz meißelte die Inschrift mit einem
Flachmeißel ein, dessen Schneide in der Regel etwas breiter war als der Strich der
Schriftzeichnung, weil sich damit die Geraden besser ziehen ließen. Wenn der Stein¬
metz einen solchen geraden Strich präzis und scharf abschließen und rechtwinklig en¬
den lassen wollte, ohne über die Strichbreite hinauszugehen, mußte er einen ent¬
sprechend schmäleren Meißel verwenden. Glücklicherweise hielt er es, aus welchem
Grunde immer, nicht für notwendig, zu solchen Werkzeugen zu greifen, weshalb er
die frei auslaufenden Striche der Schriftzeichnung einfach mit demselben breiten
Meißel abschloß, dessen er sich bei seiner bisherigen Arbeit bedient hatte. Die Folge
war, daß die quergestellten Endkanten unausweichlich die Breite des Meißels ein-
94
ABCDE
FGHIK
LM NO
PQRST
VYXZ
24- Römische Monumentalschrift, aus gereifte Grundform des 1. Jahrhunderts v. Chr.