RÖMISCHE INSCHRIFTENSCHRIFTEN
ein wenig unterscheidet, ist ihr etwas breiteres Schriftbild. Gleich der orientalischen
Schreibrichtung von rechts nach links blieb auch das Bustrophedon dieses und viel¬
leicht ein weiteres Jahrhundert in Gebrauch, wie die Inschrift auf einem Bronzetäfel¬
chen etwa aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. beweist, das im See von Fucino gefunden
wurde (Abb. 28). Obwohl das Alphabet dieser Inschrift auf den ersten Blick den¬
selben archaischen graphischen Charakter zu haben scheint, läßt es doch gewisse Ab¬
weichungen erkennen, z. B. in der Zeichnung des Buchstabens A, dem hier und dort
nicht untergezogenen Schaft des E und vor allem der aus vier Strichen zusammen¬
gesetzten Zeichnung des Buchstabens M sowie in der Form des R mit geschlossenem
oder offenem Bauch und Fuß. Im übrigen gewann, wie es scheint, in diesem Zeit¬
abschnitt bereits die westliche Schreibart von links nach rechts die Oberhand, wie
die Inschrift auf einer Vase aus Ardea beweist (Abb. 29). In der graphischen Be¬
arbeitung ist diese Inschrift nicht minder typisch für das archaische Schriftschaffen,
obwohl wir bei anderen, ungefähr gleichzeitigen Beispielen bereits die ersten Anzei¬
chen eines Strebens nach einer gewissen Ordnung feststellen.
Die Schrift und der graphische Aspekt der eben erwähnten Beispiele archaischer
Lateininschriften lassen zweifellos einen gemeinsamen, im Grunde noch stark orienta¬
lischen Kursivcharakter zutage treten, den wir als typisch für die primäre Form der
27. Vasculum Dresselianum, um den Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr.
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ARCHAISCHE LATEINSCHRIFT
28. Täfelchen aus dem See von Fucino, um das 4. Jahrhundert v. Chr.
Lateinschrift bezeichnen können (Abb. 30). Diesen Charakter kennzeichnet sowohl
die orientalische Schreibrichtung von rechts nach links, das Bustrophedon und das
ständige Vorkommen pro to tyrrhenischer Formen in einigen Buchstaben, als auch der
Mangel einer offensichtlichen graphischen Ordnung der Schriftzeichnung und -kom-
position, was von unserem Gesichtspunkt aus besonders bedeutsam ist. Es fehlt bislang
die deutlich erkennbare graphische Einheit; verschiedene Inschriften, auch solche aus
ungefähr gleicher Zeit, stimmen weder in der Schriftzeichnung noch in der Ordnung
ihrer Gesamtstruktur - sofern wir überhaupt von einer Ordnung sprechen können -
überein. An der graphischen Qualität der Schriftzeichnung war den Schöpfern der
archaischen Inschriften noch nicht viel gelegen. Es genügte ihnen vollauf, wenn sie
auf beliebige Weise und ohne Rücksicht auf einheitliche Proportionen des Schriftbildes
die einzelnen Zeichen irgendwie auf dem verfügbaren Raum zusammendrängten.
Darum zeigen diese älteren Inschriften ein überwiegend schmales Schriftbild der ein¬
zelnen Zeichen, von denen nur einige wenige, wie z. B. das aus fünf Strichen zusammen¬
gesetzte M, mehr Platz zugewiesen erhielten. Die Buchstaben werden allerdings immer
noch mit einem undisziplinierten Strich von ungefähr gleicher Stärke gezeichnet,
eingegraben oder gemeißelt und aneinandergereiht, ohne daß ein Bedürfnis fühlbar
wäre, irgendein Kompositionsprinzip in einem wie immer bestimmten graphischen
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